2008

Philosophische Reflexionen zwischendurch:

 

 

Der Willen zum Dialog, zur Diskussion und zu verstehen - als Ethos der Wissenschaft (Calogero)

...Calogero fragt, ob es irgendeinen Grundsatz gebe, von dem man annehmen könne, dass er unbestreitbar sei. Er kommt zu dem Schluß, es könne keinen anderen unbestreitbaren Grundsatz geben als jenen, den er als “Gesprächsprinzip” oder auch, was für ihn dasselbe ist, als “Willen zu diskutieren” oder als “Willen zu verstehen” behauptet. “Jede Wahrheit, jede Meinung, jede Theorie”, schreibt Calogero, “muss von dem, der sie aufstellt oder vertritt, der kritischen Überprüfung durch andere mit dem ernsthaften Bestreben ausgesetzt werden, diese Überprüfung zu verstehen und von den anderen Dialogteilnehmern geforderte Modifikationen an der eigenen Auffassung vorzunehmen, wenn das nötig ist.”

Das Dialogprinzip ist für ihn nicht irgendeine philosophische These, sondern konstitutiv für das abendländische Ethos der Wissenschaft seit der sokratischen Forderung, die eigenen Aussagen zu begründen. Es ist für ihn nicht nur ein normatives, sondern auch ein “ursprüngliches” Prinzip, sogar ursprünglicher als der Satz vom Widerspruch, und es ist aus nichts herzuleiten. Die Gültigkeit dieses Prinzips kann sich nicht Gründen verdanken, die zu seinen Gunsten angeführt werden. Genauso wie das Dialogprinzip sich sich nicht herleiten lässt, lässt es sich auch nicht widerlegen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Jeder, der mich mit Argumenten dazu bringen will, meine Entscheidung für das Dialogprinzip aufzugeben, setzt das kritische Argumentieren als oberste Regel voraus und damit eben jenes Dialogprinzip, das er anzufechten oder in Zweifel zu ziehen gedenkt. (S.78)

...Den anderen nicht zu verstehen heißt, den Diskurs zum Instrument der egoistischen Selbstbestätigung und der Manipulation des Bewusstseins herabzuwürdigen, Gründe und Argumente nicht ernst zu nehmen und folglich, um es mit den Termini der Diskursethik auszudrücken, von der Sprache einen lediglich strategischen Gebrauch zu nehmen, der ihrem wirklichen kommunikativen Gebrauch entgegengesetzt ist. (S. 78 f.)

Aus der Zeitschrift “Information Philosophie” 3/2003, S.78 und 78 f. Unter dem Stichwort “Forschung-Trends-Kontroversen” und “Italien” ein Artikel mit dem Titel “Guido Calogero - ein italienischer Vorgänger von Apel” (S.77-80)

 

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Nur Gemeinsames Gehirn kann perspektivische Begrenzungen korrigieren (Karl Mertens)

...Nach Mertens hätte Husserl einen anderen Weg gehen müssen: den einer konsequenten phänomenologischen Analyse sinnkonstituierender Leistungen des Gemeinschaftshandelns. (S.103)

...Eine solche Phänomenologie hätte sich aber wesentlich von der Monadologie von Leibniz unterschieden. Nach ihr [also dieser alternativen Phänomenologie] vermögen konkrete Subjekte nur deshalb handelnd und sprechend ihre perspektivische Begrenzung zu erweitern, weil sie in intersubjektiver Gegenseitigkeit aufeinander eingehen, sich bestätigen, anregen oder korrigieren können. (S.102)

 

Aus der Zeitschrift “Information Philosophie” 2/2003, S.102. Unter dem Stichwort “Forschung-Trends-Kontroversen” und darin speziell “Phänomenologie” ein Artikel mit dem Titel “Das Scheitern von Husserls Monadologie” S.100-103.

Der Artikel bezieht sich auf einen Aufsatz von Karl Mertens: Husserls Phänomenologie der Monade. Bemerkungen zu Husserls Auseinandersetzung mit Leibniz, in: Husserl Studies, 1/2000.

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Rationalismus als Friedensgrundlage (Popper)

Er sei Rationalist, erklärt Popper in dem Aufsatz Utopie und Gewalt (1947), weil er in der rationalen Einstellung die einzige Alternative zur Gewalt sehe. Es gibt im wesentlichen zwei mögliche Wege zu einer Entscheidung: das Argument oder die Gewalt. Ein Rationalist sei jemand, der sich bemüht, Entscheidungen lieber durch Argumente und in gewissen Fällen durch Kompromisse herbeizuführen, als durch Gewalt. (S. 54)

...Eine rationale Einstellung kann durch die Bemerkung charakterisiert werden, “Ich glaube zwar, dass ich recht habe; aber ich kann mich irren; und du magst recht haben. Auf jeden Fall wollen wir darüber diskutieren; denn so ist es wahrscheinlicher, dass wir einem wahren Verständnis näher kommen, als wenn jeder auf seinem Standpunkt beharrt”. Gewalt können wir nur dann vermeiden, wenn wir dieser rationalen Einstellung im sozialen Umgang treu bleiben - jede andere Haltung erzeugt wahrscheinlich Gewalt. (S. 54)

 

Aus der Zeitschrift “Information Philosophie” 4/2000, S. 54. Unter der Rubrik “Ausgaben” und darin “Popper” den Artikel “Widerlegungen”, S. 52-55, bei dem es um den ersten Teilband mit 10 Aufsätzen der deutsche Übersetzung von Conjectures and refutations geht.

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Wahrhaftigkeit als Grundlage einer Gesellschaft, die das Unglück, das sich die Gesellschaftsmitglieder gegenseitig zufügen, nach Möglichkeit vermeiden will (Johann David Michaelis 1750):

...Auch der in Halle geborene Orientalist, Theologe und Polyhistor Johann David Michaelis (1717-1791) vertrat nicht nur ein absolutes Lügenverbot, er versuchte dieses auch argumentativ zu begründen und zwar in seiner Schrift Von der Verpflichtung der Menschen die Wahrheit zu reden (1750). (S.92)

...Michaelis argumentiert nun, eine angenommene Erlaubnis zur Unwahrheit würde das ganze menschliche Geschlecht unglücklich machen, und durch jede Lüge [die er als Täuschungsabsicht definiert] werde ein “stillschweigender Vertrag” gebrochen. Dem Argument, der größte Teil der Menschheit rede bisweilen die Unwahrheit, ohne dass das von ihm konstatierte Unglück entstehe, erwidert Michaelis, letzteres entstehe nur, “wenn es erlaubt und gleichgültig wäre, die Unwahrheit zu reden” und zwar insofern, als damit die Verbindlichkeit der Verträge wegfallen würde, was wiederum einen Umsturz der Gesellschaft nach sich zöge. Denn Verträge, so argumentiert Michaelis, bestehen in einer inneren Entschließung der Vertragspartner, den Vertrag zu erfüllen. (S.92)

 

Aus der Zeitschrift “Information Philosophie” 5/2000, S. 92. Unter der Rubrik “Forschung-Trends-Kontroversen” der Artikel “Das Problem der Wahrhaftigkeit. Martin Annens Forschungen zum Wahrhaftigkeitsproblem in der Philosophie der Aufklärung” (S.84-94). Der Artikel bezieht sich auf das Buch: Annen, M.: Das Problem der Wahrheit in der Philosophie der deutschen Aufklärung. 1997, Königshausen und Neumann, Würzburg.

 

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Verstehen eines Textes (Hans-Georg Gadamer - Wahrheit und Methode, S. 251 und S.253/254)

Alle rechte Auslegung muß sich gegen die Willkür von Einfällen und die Beschränktheit unmerklicher Denkgewohnheiten abschirmen und den Blick auf die Sache selber richten. ... Sich dergestalt von der Sache bestimmen lassen, ist für den Interpreten offenkundig nicht ein einmaliger ‘braver’ Entschluß, sondern wirklich ‘die erste, ständige und letzte Aufgabe’. Denn es gilt, den Blick auf die Sache durch die ganze Beirrung hindurch festzuhalten, die den Ausleger unterwegs ständig von ihm selbst her anfällt. Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen gewissen Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, das dasteht. (S.251)

Wie soll vorgängig ein Text  vor Mißverständnissen geschützt werden? ... Sowenig wir einen Sprachgebrauch dauernd verkennen können, ohne daß der Sinn des Ganzen gestört wird, so wenig können wir an unserer eigenen Vormeinung über die Sache blindlings festhalten, wenn wir die Meinung eines anderen verstehen [wollen]. Es ist ja nicht so, daß man, wenn man jemanden anhört, oder an eine Lektüre geht, alle Vormeinungen über den Inhalt und alle eigenen Meinungen vergessen müßte. Lediglich Offenheit für die Meinung des anderen oder des Textes wird gefordert ... Wer verstehen will, wird sich von vornherein nicht der Zufälligkeit der eigenen Vormeinung überlassen dürfen, um an der Meinung des Textes so konsequent und hartnäckig wie möglich vorbeizuhören - bis etwa diese unüberhörbar wird und das vermeintliche Verständnis umstößt. Wer einen Text verstehen will, ist vielmehr bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen. Daher muß ein hermeneutisch geschultes Bewußtsein für die Andersheit des Textes von vornherein empfänglich sein. Solche Empfänglichkeit setzt weder sachliche ‘Neutralität’ noch gar Selbstauslöschung voraus, sondern schließt die abhebende Aneignung der eigenen Vormeinungen und Vorurteile ein. Es gilt, der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit sich der Text selbst, in seiner Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen. (S. 253/254)