Umgang mit mir

06.08.08

 

Umgang mit meiner Person

 

Um mit mir klar zu kommen, muß mancher bürgerlich erzogene Mensch seine Vorurteile revidieren, die ihm unbewußt anhaften:

 

    <Er mag mehr als zuvor bezweifeln, ob die ihm anerzogenen Ideale und Techniken einer hochgradigen Triebkontrolle und „Kultivierung“ des Verhaltens nicht auch eine erhebliche Einbuße an Echtheit und Offenheit implizieren. Die kulturell eingeübte Verherrlichung von Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung bzw. die Verteufelung von Unbeherrschtheit und dranghaftem Agieren wird ihm um so problematischer erscheinen, je mehr sein Gefühl von Überlegenheit und Selbstgerechtigkeit gegenüber denen schwindet, die genau das repräsentieren, was er in sich und außerhalb zu verteufeln gelernt hat.> (Horst E. Richter: Flüchten oder Standhalten,  Reinbek 1976, S.163)

Es geht in dem Zitat um den Umgang mit Bewohnern einer Obdachlosensiedlung. Da ich selber einen großen Teil meiner Sozialisation im Gießener Teufelslustgärtchen erlebt habe, das zwar nicht die volle Qualität einer Obdachlosensiedlung hatte, aber dennoch in vielerlei Hinsicht jenseits der üblichen bürgerlichen Welt lag, liegt hier eine analoge Situation vor. Zumal ich mich in den späteren Jahren meiner Emanzipation (ab 1969) lösen wollte von falschen bürgerlichen Zwängen (bezüglich Kleidung, Haare, sonstigem Verhalten) und meine eigenen freien Verhaltensweisen kultivierte.

  • In dem obigen Zitat ist also klipp und klar meine Erfahrung auf den Begriff gebracht:  Denn für viele gutdressierte Leute bin ich gewissermaßen ein nicht ernst zu nehmender Mensch, weil und wenn ich zu sehr aus mir rausgehe, scheinbar zu wenig darauf achte, wie es von ihresgleichen aufgefaßt werden könnte. Schon allein die Nichtbeachtung des Hochdeutschen, diese Dialektkomponente, macht ihnen ihre scheinbare Überlegenheit klar. Meine Unbeherrschtheit macht sich im (angeblich unmäßigen) Saufen & Fressen (früher auch Rauchen) bemerkbar – oder in deftigen Formulierungen und ungeschminkten Ausdrücken. Das dranghafte Agieren wird deutlich, wenn ich unbedingt Wert drauf lege, daß gewisse wichtige Dinge auch ganz dringend gesagt werden müssen. Das bestätigt ihre Selbstgerechtigkeit, wenn ich damit in gruppendynamische Probleme gerate.
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    Dabei habe ich von mir selber keineswegs den Eindruck einer maßlosen Unbeherrschtheit. Man kann vielleicht eher sagen, daß es sich um eine  letztlich kontrollierte Unbeherrschtheit handelt. - Dieses scheinbare Paradox  ist offenbar etwas, was viele Leute nicht verstehen. Diese haben vermutlich hauptsächlich nur ein äußeres Gewissen von äußeren Autoritäten vorgegeben – also im Wesentlichen kein inneres, autonomes Gewissen. Deswegen haben sie keine eigene letzte Verfügungsgewalt z.B. über Drogen. Diese letzte Verfügungsgewalt hat aber einer, der ein autonomes Gewissen besitzt. So jemand hat also eine kontrollierte Unbeherrschtheit den Drogen gegenüber, wie dies beispielsweise bei Marianne Faithful, Leonard Cohen, John Lennon oder Timothy Leary  der Fall war. Auch wenn die Geschichte mit dem exzessiven Drogengebrauch selbstverständlich keineswegs harmlos ist, kann man nicht alle Drogenbenutzer in einen Topf werfen. - Dies nur mal als Paradigma für das Thema Unbeherrschtheit.

     

    Leute, die jene Vorurteile der Überlegenheit und Selbstgerechtigkeit nicht revidieren können, erscheinen mir (offenbar zu recht, wenn man H.E.Richter folgt) gehandicapt. Umgekehrt erscheine ich denen allem Anschein nach ebenfalls als gehandicapt: vermutlich als eine Art erwachsenes Kind. Manchmal gibt es auch sowas wie palmsonntägliche Ambivalenz: Erst Hosiannah, dann kreuziget ihn!

     

    Warum fühl(t)e ich mich im (südlichen) Ausland regelmäßig so wohl? Das hat womöglich auch damit zu tun, daß die nicht wissen, daß ich kein Hochdeutsch spreche, und auch damit, daß ich ihrer eigenen Spontaneität entspreche. Daß ich also nicht der (übliche) kontrollierte schematische Hochdeutsche bin, der ja schon in Österreich als 'Preuße' verdächtig ist. Daß ich also irgendwie zu ihnen gehörte und sie das mit der typischen Freundlichkeit des menschlichen Menschen honorierten.

     

(Fethiye, Türkei, 90er Jahre)