13.09.08
Was wird aus den antiautoritär erzogenen Kindern?
Das ist eine Frage, die erst jetzt so langsam ins Blickfeld rückt. Vorher hatte man diese Frage ignoriert oder verdrängt – oder schlicht nicht in Angriff nehmen können, mangels Empirie.
Es gab damals, in den 70er Jahren, von orthodox-kommunistischer Seite schon ein Kritik der Art, daß man den Kapitalismus nicht durch Erziehung verändern kann oder Ähnliches. Daß also insofern antiautoritäre Erziehung Quatsch ist.
Das stimmt: Jedenfalls nach den jetzigen Erfahrungen mit erwachsenen antiautoritär erzogenen Kindern. Aber ist es denn die eigentliche Frage, den Kapitalismus zu verändern, wenn man antiautoritär erzieht? Was ist denn die eigentliche Frage? Die Vorstellung, man erzieht neue Genossen oder Revolutionäre war eine Sache. Andere hatten die Vorstellung, es entstehen zumindest Leute, die auch ihre eigenen Kinder wiederum antiautoritär erziehen wollen. Dies oder jenes geisterte wie selbstverständlich durch die unreflektierte utopische Vorstellungswelt der früheren gesellschaftskritischen antiautoritären Erzieher. Sie wurden nicht selten eines Besseren belehrt.
Der alte Neill hatte (zumindest als alter Mann) keine solche Vorstellungen, außer, daß die jungen Leute durch die antiautoritäre Erziehung in die Lage versetzt werden sollten, ein glückliches Leben (auch in dieser unglückseligen, neurotischen Gesellschaft) führen zu können. Ansonsten gab es bei ihm keine Ansprüche (mehr). Offenbar lag für ihn in dem Begriff 'glücklich' schon alles Entscheidende drin.
Man muß mal Eines ganz klar sehen: wenn ein junger Mensch tatsächlich antiautoritär erzogen wurde, hat er eigentlich die bestmögliche Erziehung überhaupt bekommen. (Siehe auch hier). Er/Sie ist nicht nur als Kind, sondern auch im (frühen) Erwachsenenalter intelligent, wach, sportlich, gesund, explorativ, im sozialen Umfeld fit und obenauf, prinzipiell frohgemut, checkt alles ziemlich schnell, ist praktisch veranlagt, kann handwerklich und geistig zupacken. So jemand ist begehrt und beliebt sowohl bei Lehrern, Schülern als auch potentiellen Arbeitgebern, Freunden und Sexualpartnern. Wieso soll sich ausgerechnet so jemand außerhalb der Normen stellen und Revolutionär, Freak oder dergl. werden? Der/die zieht sich doch schicke, normal-übliche Klamotten an und versucht sich in der Gesellschaft vorwärtszuhangeln. So jemand hat doch gute Aussichten für allerlei – und mehr will er/sie ja eigentlich gar nicht. So jemand will weder Gesellschaftskritik, noch gibt es ein Bedürfnis nach Nachdenken über die Gesellschaft und ihre Macken, noch will man zeigen, daß man irgendwie dagegen ist, noch will man ein alternatives Kind antiautoritär aufziehen, weil ihm das alte Erziehungssystem gestunken hat. - (Insofern hat er/sie wenig Verständnis für die eigenen wohlmeinenden antiautoritären Eltern, soweit sie gesellschaftskritisch eingestellt sind). - Vielleicht ist er ein 'Hans im Glück', der nach und nach seinen Goldklumpen, den er als Ausgangsbasis hatte, verspielt, indem er sich von der üblichen offiziellen Scheiße verblenden läßt. - Vielleicht lernt er ja dadurch im Laufe der Zeit doch noch einiges an Gesellschaftskritik.
Möglicherweise kommen noch ein paar spezielle Sachen mit ins Spiel: Scheidung der Eltern, deswegen Kritik an dieser Art von Erziehung, weil die Mutti ja nun erkennt, daß das eh alles Mist mit diesem Vater war, also auch dessen antiautoritären Erziehungsvorstellungen. Nun also der entsprechend neu getaufte, vom Vater enttäuschte und von der Mutti entsprechend indoktrinierte Sprößling etwas gegen antiautoritäre Erziehung hat. Wo vielleicht ein unbeeinflußter antiautoritär Erzogener die Erziehung seiner Kinder völlig cool prinzipiell ebenso handhaben würde wie seine Eltern, überlässt dieser (als Mann) jenes wichtige Geschäft einer hübschen Puppe, die vielleicht viel vom Blasen, vom Tuten aber keine Ahnung hat. - Natürlich lassen sich nicht alle denkbaren Variationen so ohne weiteres durchspielen. Z.B. kann ein junges Teenie-Mädchen, das vorher als Kind echt gut drauf war, an irgendeinen Typen geraten, der sie verarscht oder übel behandelt, so dass ihr Urvertrauen und ihre Lebendigkeit anschließend einer depressiven Ängstlichkeit und Irrationalität weicht.
Was soll man also nach diesen ernüchternden Feststellungen von der antiautoritären Erziehung halten?
Es ist logisch klar, daß eine ernsthafte antiautoritäre Erziehung (die auch den Aspekt der geistigen Ehrlichkeit integriert) in einem autoritären Gesellschaftsraum notwendigerweise ein Paradox impliziert. Der autoritäre Gesellschaftsraum kann ja die Vorstellung haben, daß er der Stärkere ist und diese Sache einfach schluckt. Damit hat er sicher recht. Was ich nicht glaube ist, daß Kinder, die wenigstens einigermaßen halbwegs antiautoritär erzogen wurden, später als Militaristen i.e.S. zu gebrauchen sind. Damit aber wäre schon einmal dem Hauptaspekt der klassischen Gesellschaft, dem imperialistisch-militaristischen, ein Zahn gezogen worden. Vermutlich werden sie aber auch nicht jeden Dreck in der üblichen Wirtschaftsdiktatur mitmachen. Also auch hier könnte dadurch vielleicht eine liberale Aufweichung stattfinden.
Wenn diese Analyse stimmt, dann handelt es sich keineswegs um ein direktes Eins-zu-Eins Verhältnis der Kinder von kritisch eingestellten antiautoritären Erzieher zu diesen Erziehern selber (übrigens: nicht alle halbwegs antiautoritär Erziehenden müssen notwendigerweise gesellschaftskritisch sein), sondern um ein wesentlich indirekteres, keineswegs geplantes. Vielleicht war es diese Erkenntnis, die auch schon der alte Neill hatte: glückliche Menschen (speziell auch solche, die es zumindest als Kind mal waren) wollen keinen Krieg, wollen keine Ausbeutung: Alles andere ergibt sich von selbst.
|