Politisch-Philosophische Reflexionen zwischendurch:
Thomas Mann (1938) über die Basiswerte der Demokratie: Recht, Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit.
Ich nannte die Demokratie zeitlos-menschlich und ihren heute so sieghaft auftretenden Gegner, den Faschismus, eine Zeiterscheinung. Ich vergesse dabei nicht, daß auch er tiefe und vielleicht unzerstörbare Wurzeln im Menschlichen hat; denn sein Wesen ist die Gewalt. An sie, die physische und und geistige Vergewaltigung, glaubt er, sie praktiziert er, sie liebt, ehrt und verherrlicht er, sie ist für ihn nicht erst die ultima, sondern die prima ratio, - und wir wissen nur zu gut, daß die Gewalt ein ebenso menschlich-unsterbliches Prinzip ist wie ihr Gegenteil, der Gedanke des Rechtes: Sie ist das unerbittlich Tatsachen schaffende Prinzip, sie kann alles oder fast alles; nachdem sie sich durch Angst die Körper unterworfen, unterwirft sie sich sogar die Gedanken - denn der Mensch kann auf die Dauer kein Doppelleben führen; um in Harmonie mit sich selber zu sein, paßt er notgedrungen seine Gedanken dem äußeren Verhalten an, zu dem die Gewalt ihn zwingt. So viel vermag diese auszurichten. Täglich sehen wir das Recht vor ihr erbleichen und zunichte werden, denn die Gewalt ist die erdrückende und in der Erfahrung meist das Feld behauptende Materie, und das Recht nur eine Idee. Aber dies <nur>, so bitter pessimistisch es klingt, ist dennoch erfüllt von Stolz und der entschiedensten Zuversicht, - einer Zuversicht, die nicht läppischem, naturlosem Idealismus entspringt, sondern im Gegenteil über die Natur und Realität des Menschen besser, vollständiger Bescheid weiß als der nur halb unterrichtete Gewaltglaube. Denn das ist eine besondere Natur, die menschliche, welche sich von der übrigen eben dadurch unterscheidet, daß ihr die Idee gegeben ist, daß sie ihr untersteht und ohne sie nicht sein kann, da sie durch sie ist. Die Idee ist das spezifisch und eigentlich Menschliche, das, was ihn zum Menschen macht; sie ist in ihm eine reale, natürliche und unmöglich zu vernachlässigende Tatsache, so daß die plumpsten und auf die Dauer verderblichsten Fehler begeht, wer des Anteils der rnenschlichen Natur am Ideellen nicht achtet - wie die Gewalt es tut. Mit dem Worte <Recht> aber ist die Idee bei einem ihrer Namen genannt - mit einem nur; denn man kann auch andere, ebenso starke und keineswegs naturarme, sondern eher schreckliche Namen dafür einsetzen: zum Beispiel Freiheit und Wahrheit. Man weiß nicht, welchen man an die Spitze stellen soll, welcher der größte ist; denn jeder von ihnen bezeichnet die Idee in ihrer Ganzheit, und einer steht für den anderen. Sagt man Wahrheit, so sagt man auch Freiheit und Gerechtigkeit; spricht man von diesen, so meint man die Wahrheit. Es ist ein mit geistiger Natur und elementarer Sprengkraft geladener Komplex untrennbarer Art, man nennt ihn das Absolute. Dem Menschen ist das Absolute gegeben - möge das nun ein Fluch oder ein Segen sein, es ist eine Tatsache. Er ist ihm verpflichtet, sein Wesen ist nach ihm gerichtet; und im mensch1ichen Bereich nimmt sich die wahrheitswidrige, freiheitsfeindliche und rechtlose Gewalt darum so subaltern, so verächtlich aus, weil sie ohne Gefühl und Verstand ist für die Verbundenheit des Menschen mit dem Absoluten und ohne Begriff für die unabdingbare Würde, die ihm aus dieser Verbundenheit erwächst.
Aus: Thomas Mann, Schriften zur Politik. Darin: S. 106-135: Vom kommenden Sieg der Demokratie (1937), hier: S.111-112. (Der Vortrag wurde im Frühjahr 1938 in 15 Städten der USA gehalten). Suhrkamp Verlag, Ffm 1973. Band 243 der Bibliothek Suhrkamp.
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