2018

Die Entwicklung eines Fortschritts im wissenschaftlichen Wissen – dargestellt von John Dewey

 

John Dewey: Studies in Logical Theory (1903, University of Chicago Press, Seite 11-13)

We come a little closer to the problem when we recognize [anerkennen, begreifen] that every scientific inquiry [Ermittlung] passes historically through at least four stages.

(a) The first of these stages is, if I may be allowed the bull [Nonsense], that in which scientific inquiry does not take place at all, because no problem or difficulty in the quality of the experience has presented itself to provoke reflection. We have only to cast our eye back from the existing status of any science, or back from the status of any particular topic in any science, to discover a time when no reflective or critical thinking busied itself [beschäftigte sich] with the matter—when the facts and relations were taken for granted [als selbstverständlich angesehen] and thus were lost and absorbed in the value [Nutzen] which accrued [angesammelt] from the experience.

(b) After the dawning of the problem, there comes a period of occupation with relatively crude [unreif, unverarbeitet] and unorganized facts—the hunting for, locating, and collecting of raw material. This is the empiric stage, which no existing science, however proud in its attained [erreichte] rationality, can disavow [ableugnen] as its own progenitor [Vorläufer, Erzeuger].

(c) Then there is also a speculative stage: a period of guessing, of making hypotheses, of framing ideas which later on are labeled and condemned as only ideas. There is a period of distinction [Differenzierung, Unterscheidung] and classification-making which later on is regarded as only mentally-gymnastic in character. And no science, however proud in its present security of experimental assurance [Gewissheit], can disavow [leugnen] a scholastic [schulmäßig] ancestor.

(d) Finally, there comes a period of fruitful interaction between the mere ideas and the mere facts: a period when observation is determined by experimental conditions depending upon the use of certain guiding conceptions; when reflection is directed and checked at every point by the use of experimental data, and by the necessity of finding such form for itself as will enable it to serve as premise [Voraussetzung, Prämisse] in a deduction leading to evolution [Entwicklung] of new meanings, and ultimately to experimental [auf Versuchen aufgebaute] inquiry [Recherche, Untersuchung, Befragung, Ermittlung, Überprüfung], which brings to light new facts. In the emerging [Neuentstehung] of a more orderly [systematisiert] and significant [aussagekräftig, bedeutsam] region of fact, and of a more coherent [stimmig, folgerichtig, verständlich] and self-luminous [selbständig leuchtend, erhellend] system of meaning, we have the natural limit [Obergrenze] of evolution of the logic of a given science.

But consider what has happened in this historic record [historische Bilanz]. Unanalyzed experience has broken up [aufgebrochen, aufgeteilt] into distinctions of facts and ideas; the factual side has been developed by indefinite and almost miscellaneous [verschiedenartige, vielseitige] descriptions and cumulative [zunehmend, sich häufend] listings [Auflistungen]; the conceptual [begrifflich] side has been developed by unchecked [unkontrolliert, ungehemmt] and speculative [auf Vermutungen beruhende] elaboration [Ausarbeitung] of definitions, classifications, etc. There has been a relegation [Verbannung] of accepted meanings to the limbo [Vorhölle] of mere [nichts als, bloße] ideas; there has been a passage of some of the accepted facts into the region of mere hypothesis and opinion. Conversely [im Gegenzug], there has been a continued issuing [Ausgabe] of ideas from the region of hypotheses and theories into that of facts, of accepted objective and meaningful contents. Out of a world of only seeming facts, and of only doubtful ideas, there emerges a universe continually growing in definiteness [Klarheit, Eindeutigkeit], order, and luminosity [Leuchtkraft].

This progress, verified in every record [Bericht] of science, is an absolute monstrosity [Ungeheuerlichkeit, Greueltat, Mißgestalt] from the standpoint of the epistemology [Erkenntnistheorie, Wissenschaftslehre] which assumes a thought in general, on one side, and a reality in general, on the other.

 

 

 

Ein Beispiel: Einstein

...Doch etwas stört ihn: Seine Relativitätstheorie, wie gefeiert auch immer, stimmt nicht mit dem überein, was man über die Schwerkraft weiß, also darüber, wie die Dinge fallen. Dies wird ihm klar, als er für eine Zeitschrift einen Artikel über seine Theorie schreibt, und er fragt sich, ob die altehrwürdige Gravitationslehre des großen Vaters Newton nicht ebenfalls revidiert werden muss, damit sie mit der neuen Relativität kompatibel wird. Er vertieft sich in das Problem. Bis es gelöst ist, dauert es zehn Jahre. Zehn Jahre lang verrückte Forschungen, Versuche, Irrtümer, Verwirrung, misslungene Artikel, Geistesblitze, Fehlschlüsse. Im November 1915 schließlich gibt er einen Artikel in den Druck, der die vollständige Lösung enthält: eine neue Theorie der Gravitation, der er den Namen „Allgemeine Relativitätstheorie“ gibt, sein Meisterwerk.

(Aus: Carlo Rovelli, Sieben kurze Lektionen über Physik, Rowohlt 2015. Als Amazon Kindle Edition bei Position 79/83 von 246)

 

 

 

Ein weiteres Beispiel: Hermann von Helmholtz

 

Auch bin ich im Stande gewesen, einige mathematisch-physikalische Probleme zu lösen, und darunter sogar solche, an welchen die großen Mathematiker seit  E u l e r  sich vergebens bemüht hatten, z.B. die Fragen über die Wirbelbewegungen und die Discontinuität der Bewegung in Flüssigkeiten, die Frage über die Schallbewegung an den offenen Enden der Orgelpfeifen u.s.w.

Aber der Stolz, den ich über das Endresultat in diesen Fällen hätte  empfinden können, wurde beträchtlich herabgesetzt dadurch, dass ich wohl wusste, wie mir die Lösungen solcher Probleme fast immer nur durch allmählich wachsende Generalisationen von günstigen Beispielen, durch eine Reihe glücklicher Einfälle nach mancherlei Irrfahrten gelungen waren. Ich musste mich vergleichen einem Bergsteiger, der, ohne den Weg zu kennen, langsam und mühselig hinaufklimmt, oft umkehren muss, weil er nicht weiter kann, der bald durch Überlegung, bald durch Zufall neue Wegspuren entdeckt, die ihn wieder ein Stück vorwärts leiten, und endlich, wenn er sein Ziel erreicht, zu seiner Beschämung einen königlichen Weg findet, auf dem er hätte herauffahren können, wenn er gescheidt genug gewesen wäre, den richtigen Aufgang zu finden.

In meinen Abhandlungen habe ich natürlich den Leser dann nicht von meinen Irrfahrten unterhalten, sondern ihm nur den gebahnten Weg beschrieben, auf dem er jetzt ohne Mühe die Höhe erreichen mag.

(H.v. Helmholtz, Vorträge und Reden. Erster Band, Braunschweig 1903, Fünfte Auflage, S. 14f. Aus dem ersten Kapitel “Erinnerungen”. Tischrede gehalten bei der Feier des 70. Geburtstages, Berlin 1891)

 

 

 

Marcel Proust: Der forschende Geist selber ist zunächst eine dunkle Landschaft, in der er suchen soll

 

<Ich setze die Tasse nieder und wende mich meinem Geiste zu. Er muß die Wahrheit finden. Doch wie? Eine schwere Ungewißheit tritt ein, so oft der Geist sich überfordert fühlt, wenn er, der Forscher, zugleich die dunkle Landschaft ist, in der er suchen soll und wo das ganze Gepäck, das er mitschleppt, keinen Wert für ihn hat. Suchen? Nicht nur das: Schaffen. Er steht vor einem Etwas, das noch nicht ist, und das doch nur er in seiner Wirklichkeit erfassen und dann in sein eigenes Licht rücken kann.>

 

Aus Marcel Proust - Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1, In Swanns Welt, Suhrkamp st 3209, Ffm 2000, S. 64