Religion, neu betrachtet

18,12,03

Neue Idee zur Religion

Ich denke, jede bedeutende Religion hat zwei Aspekte. Der erste Aspekt, das was von den meisten ‚Gläubigen‘ als die Hauptsache angesehen wird: Rituale, Welterklärung, Lebensorientierung, moralische Orientierung, Lebenssinn, Feste mit ihren Wundergeschichten & Legenden, schließlich Glauben an eine höchste Autorität. Sodann der kulturelle Aspekt: Eine unbezweifelbare Autorität zu etablieren, welche eine Kultur fixiert. (Man sieht hier unter anderem auch das Zusammenwirken von „Thron und Altar“).

Im Gegensatz zu Ameisen oder Vogelschwärmen sind die biologischen Prägungen des menschlichen Schwarmverhaltens nicht festgelegt, sondern es besteht lediglich ein biologisches Bedürfnis nach einer gewissen Festlegung. Da jedoch diese Festlegungen in Raum und Zeit auf Erden stark variieren können (wie die Historie lehrt), bedarf es zwischenzeitlich irgendeiner dogmatischen Instanz zur Festlegung. Diese Festlegungen nennen wir ‚Kultur‘ oder ‚Zivilisation‘ und üblicherweise dienen die Religionen zur Herstellung dieser dogmatischen Instanz, welche die Festlegungen stützen.

Die biologische Vermittlung zwischen der Etablierung einer Kultur und den individuellen Menschen leistet das angeborene menschliche Sprachvermögen. Prinzipiell hat jeder Mensch das Bedürfnis, mitreden zu können. Das heißt, über die kulturellen Gegebenheiten urteilen zu können. Z.B. Ein Erwachsener darüber, inwieweit ein spezielles Kind den vorgegebenen kulturellen Anforderungen genügt.

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Die Frage ist nun, was ist, wenn der religiös vorgegebene Glauben an eine höchste Autorität (z.B. ‚Gott‘, ‚Allah‘, ‚Buddha‘‚ ‚Shiva‘, ‚Konfuzius‘) in Zweifel gezogen wird?

Dann erodiert auch das gesamte kulturelle System, das durch jenen Glauben dogmatisch gestützt wird!

Deshalb entstehen in solcherlei erodierenden Kulturen widerstreitende Gegensätze, wie sie seit der Zeit der Französischen Revolution in Europa als ‚fortschrittlich‘ und ‚reaktionär‘ (aus der Physik stammend: reactio gegen actio) bezeichnet werden.

Die weitere, sich daran anschließende Frage, ist: Was soll dann aus der erodierenden alten Kultur sich als neue Kultur (ohne eine höchste religiöse Autorität) entwickeln? Ist das möglich, wie soll eine Alternative aussehen?

Irgendwann, nach einer Phase von wilder Kriegs-Destruktion in Europa, gab es einige kuriose Antworten, dass sich neue Halb-Götter als herrschende Politiker etablierten wie bekanntermaßen Hitler, Mussolini, Stalin. Sie wollten nunmehr die höchste Autorität früherer Religion okkupieren, was einem tiefen Bedürfnis der desorientierten Massen entgegenkam. – Aber das waren keine lange haltbaren Lösungen. Deshalb fallen mir als haltbare (europäische) Lösung nur die Begriffe ‚Verfassungsstaat‘‚ ‘Rechtsstaat‘, ‚Sozialstaat‘ ein, sofern man diese Ideen tatsächlich ernst nimmt und nicht pervertiert. Und im Hintergrund sollte noch ein erfolgreiches und innovatives (kapitalistisches) Wirtschaftssystem laborieren, das mit dem Verfassungsstaat amalgamiert ist und sich somit beides gegenseitig stützt. – In der VR China übernimmt die Ersatzrolle der höchsten Autorität (seit dem Konfuzianischen Zeitalter und nach ihm Mao-Tse-Tung) die ‚Partei‘ mit ihrem stark wirtschaftlich orientierten Parteiführer. Da ist natürlich auch wiederum die Frage, wie sich das weiterentwickelt!