Bürger-Archetyp

12,02,24

 

Der Bürger-Archetyp

 

Man versteht den modernen 'Bürger' am Besten, wenn man sich klar macht, daß er den Adeligen abgelöst hat, was aber in der Regel nicht so deutlich wird wie bei den Adeligen an und für sich. Denn vor allem fehlt dem Bürger der formelle Adelstitel.

 

Deshalb übrigens können die Deutschen Churchill nicht ernst nehmen. Für sie ist er ein normaler englischer Bürger. Daß er jedoch 'eigentlich' Adeliger ist (in England wird die Adelsfolge anders geregelt als in Deutschland) und sogar aus dem englischen Hochadel der Marlboroughs stammt (er wurde im Blenheim Palace zur Welt gebracht), ist den wenigsten Deutschen bekannt. Ansonsten hätten die Deutschen – bei ihrem devoten Verhältnis zum Hochadel – ein anderes Churchill-Bild. Meine ich jedenfalls. Das aber nur ganz nebenbei.

 

Der normale Bürger ist eine Art Zwittergestalt. Einerseits fühlt er sich gegenüber 'einfachen' Menschen als Adeliger, andererseits ist er sozusagen 'Normalbürger', d.h. er kann diese Adeligenhaltung in der Regel nicht formell gegenüber Minderwertlingen durchsetzen. Er muß sie sich sozusagen gesellschaftlich erschleichen. Dazu gibt es mehrere Tricks.

 

1. Durch ökonomische und/oder institutionelle Superiorität. Indem ein Bürger es mit Hilfe von seinesgleichen (offiziellerweise durch Leistung – im Gegensatz zum Adel) geschafft hat, irgendwo eine superiore Stelle zu ergattern, kann er andere spüren lassen, daß sie nicht dazu gehören und sie sogar mehr oder minder nötigen, ihn als erlauchte Person zu behandeln.

 

2. Durch ausgewählten Umgang mit ihresgleichen. Besonders ausgeprägt etwa bei gewissen Fraktionen innerhalb politischer Parteien, Kirchen, Universitäten, Verbänden, Rotary- und Lion-Clubs. Die schanzen sich dann auch gegenseitig diverse lukrative Positionen der Gesellschaft zu, soweit ihnen das möglich ist.

 

3. Benimm-Regeln, Kleidungsregeln, Statusregeln (z.B. Automarken, Titel) sind das letzte Refugium einer Art Adeligen-Formalität, das dem Bürger offensteht und mit denen er klar stellen will, wer dazu gehört und wer nicht.

 

Soweit also die hauptsächlichen 'Tricks', mit denen sich die Bürger ihren ‘wahren’ Adel erkämpfen müssen. Wie verhält sich aber ein Bürger gegenüber 'einfachen' Menschen? - Bei Bundestags-Politikern findet man die verräterische Rede von „den Menschen draußen im Lande“, was sich mittlerweile (2011) reduziert hat auf „die Menschen“: z.B. „wir müssen den Menschen klar machen, daß...“. Aber zu diesen 'Menschen' gehören auch wiederum andere 'Bürger', sodaß sich der Politikerstatus offenbar in einer Art Hochadels-Status gegenüber dem normalen Volk, inklusive 'Bürger', sieht.

 

Mir geht es jedoch jetzt darum, wie verhält sich ein waschechter 'Bürger'  gegenüber 'einfachen Menschen'? Nun ist klar, einfache Menschen gibt es in 'unserer' bürgerlichen Gesellschaft diverse. Da gibt es z.B. einerseits die Assis und andererseits die Malocher. Ich meine jetzt einfach nur normale Malocher und ihresgleichen, vielleicht auch unterste Kleinbürger. Aber die erste Frage ist: Was ist eigentlich ein 'waschechter Bürger'?

 

Ein waschechter Bürger geht insgeheim von seiner Superiorität qua Geburt aus. Sein (oder ihr) Vater war etwa Zeitungsherausgeber, Zahnarzt, Staatsanwalt, Gauleiter, Offizier, Allgemeinmediziner, Fabrikbesitzer,  Kapitän, Notar. Ein weniger waschechter Bürger hat lediglich eine 'kleinbürgerliche' Geburt, etwa Bahnhofsvorsteher in einem Dorf, mit eigenem Nutz-Garten am Bahnhofsgebäude. Oder er hat sich eine kleine, gutgehende Gärtnerei in einem Dorf aufgebaut. Oder ist Wurstbudenbesitzerin.

 

Wie geht nun der Bürger mit 'einfachen' Menschen  um?

 

Er nimmt sie prinzipiell nicht richtig ernst (es sei denn, er hat genügend humane Gegenkräfte als Citoyen). Will eigentlich nix mit ihnen zu tun haben oder falls doch, daß er Versprechungen nicht einhält: Er leiht sich beispielsweise Geld und gibt es nicht, oder nur höchst ungern, zurück. Oder er engagiert eine Putzfrau und ‘vergißt’ sie zu bezahlen – oder nur gegen wiederholtes Drängen. Er vereinbart Termine – und hält sie nur ungern ein. - Das Prinzip ist: Der überhebliche Bürger geht prinzipiell unbewußt von der Machtlosigkeit bzw. Hilflosigkeit vor allem aber Minderwertigkeit dieser 'einfachen' Menschen ihm gegenüber aus. Er nimmt sie einfach nicht ernst. Wenn er, im Extremfall, regelrechter Bourgeois ist, verhält er sich ihnen gegenüber wie ein Asozialer – nur eben mit Macht versehen (er beutet sie aus, schikaniert sie u.dergl.). -  In jedem Fall verhält er sich wie ein Adeliger: wenn der einfache, doch eigentlich minderwertige Mensch (wenn auch noch so sehr im Recht) ihm gegenüber aufmuckt: das ist ihm einfach eine ungeheure Impertinenz, die absolute Unverschämtheit.

 

Wie ist das Verhältnis der Bürger zu anderen Bürgern? Meistenteils (falls keine Interessengegensätze intervenieren) sind sie untereinander bemüht freundlich, höflich, respektvoll und anerkennend. - Nur nicht zu nahe dürfen sie sich kommen. Alles soll sich auf einem diplomatischen Grenzpfad bewegen. Echte, wahre Freundschaft unter Kumpels, wo man sich frei alles erzählt und derjenige sein kann, der man ist, ist da keineswegs angesagt.