Die glückliche Heerde

07.03.09

 

Die glückliche Heerde

 

Nietzsche schrieb den Ausdruck Herde damals (1880 oder so) noch mit 2 ee (gemäß der damaligen Schreibweise). Wenn er von den „Heerden-Menschen“ sprach, meinte er begriffsmäßig erst mal was Anderes als ich - denke ich. Auch wenn es vielleicht gewisse Überschneidungen geben könnte.

 

Was ist in meinen Augen die glückliche Heerde?

 

Ich denke, das Phänomen ergibt sich automatisch, insoweit Menschen in dieser Gesellschaft primär nach Glück streben – und das ist ja auch das eigentlich Natürliche. Indem sie dies tun, haben sie automatisch einen Hang, sich Gruppen anzuschließen, damit sie dort wer sein können und entsprechend ihren Narzißmus – oder zu deutsch: ihr Glück – entfalten können. Auch das ist das Naheliegende und Natürliche. Im Rahmen dieser Gruppen weiden sie also wie glückliche Kühe auf einem bestimmten, gesellschaftlich definierten, Terrain: als Kirchenangehörige, Vereinsmitglieder, Betriebsangehörige, Schüler oder Studenten, als Familienangehörige, Freundeskreisangehörige usw.

 

Das Phänomen der glücklichen Heerde ist eine sehr unbewußte Angelegenheit. Man kann vielleicht sogar sagen: nix ist unbewußter und selbstverständlicher als das! Weswegen man darüber auch so gut wie nix erfährt.

 

Das Phänomen wird jedoch dann zum Problem – und insofern bewußtseinsbedürftig – wenn man sich einmal fragt: o.k. es gibt Täter in der Weltgeschichte, speziell in der neueren deutschen Geschichte, aber durch wen wurden sie als Täter bestätigt, wer hat sie ‚bei aller Unschuld’ gestützt, getragen oder geduldet? Wen konnten sie zu Kriegen, Revolutionen, Destruktionen und sonst was Beschissenem mobilisieren? Wer hat sich nicht getraut, gegen den Strom zu schwimmen, wenn es eigentlich nötig war?  Wer waren die Wähler (oder Nichtwähler) bei gewissen entscheidenden Abstimmungen? Wer läßt sich von Propoganda kritiklos berieseln und plappert sie nach? – Und genau hier stößt man meiner Ansicht nach bei bohrender Analyse irgendwann einmal auf die glückliche Heerde der Nicht-Täter.

 

Die glückliche Heerde ist die Basis unserer Gesellschaft. Das sind (im Prinzip) gutartige Leute, die ihre Ruhe und ihren Frieden haben wollen. - Soweit so gut. Da sie jedoch glücklich sein wollen und ihren Frieden haben wollen, sind sie lenkbar: Wenn von den Medien irgendwelche Gatter geöffnet werden: da hast Du hineinzugehen (so hast Du das offiziell zu sehen), so traben sie gutmütig in diesen geistigen Pferch hinein (und sehen das auch so, wie sie es offiziell zu sehen haben). Wer sitzt hinter den Medien? Wer sonst als (meistenteils) die Bourgeoisie? Diese Bourgeois-Menschen (z.B. sog. Wirtschaft & Co., Nieten in Nadelstreifen) maßen sich an, die Hüter der Gesellschaft zu sein. Und sie wissen durch lang geübte Praxis, daß die Heerde ihrer geballten Medienmacht (z.B. ihren Hetzkampagnen) niemals widerstehen kann - noch will.

 

In den ‚Käseblättern’ wird allen möglichen Aktivitäten der offiziellen glücklichen Heerde viel Raum gegeben: Die Gesangvereine, die Kirchen, die Feuerwehrvereine, die Karnevalsvereine, Theater, Sportvereine, Kindergruppen, Altengruppen und und und ohne Ende. – Die glückliche Heerde lullt sich ein in solchen Aktivitäten, die der Bourgeoisie nur recht sind. Völlig ignoriert werden von den Käseblättern andererseits eine Menge anderer Aktivitäten, die der Bourgeoisie offenbar nicht in den Kram passen. Z.B. heutzutage: Internetaktivitäten der Open Software-Leute und anderer Internet-Leute, wie z.B. mich selber. Oder Leute, die sich ein (halbwegs schönes) Leben mit Hilfe sog. Schwarzarbeit aufbauen.

 

Es gab zwar neben der offiziellen glücklichen Heerde schon immer noch eine weitere, inoffizielle, glückliche Heerde (Bohemien, Tramper; Künstler oder auch Kriminelle, Obdachlose, Revolutionäre usw.), die inoffizielle glückliche Heerde ist im Zuge der exponentiellen Modernisierung  der letzten Jahrzehnte entweder mittlerweile psychiatrisiert oder aber weitgehend ausgestorben – allerdings bis auf die Kriminellen und Obdachlosen, die sind angewachsen.

 

 

Diverse Verhaltensweisen, die man sich normalerweise als rational denkender Mensch nicht erklären kann, finden mit Hilfe dieses Heerden-Modells einen ersten Ansatz zur Erklärung.

 

1. Beispielsweise, warum manche Menschen in einer Institution A so sind und in einer anderen Institution B anders. Wenn es glückliche Menschen sind, ist die Sache klar, sie gehören zur glücklichen Heerde und sind in A glücklich und in B glücklich. Beide Institutionen (nehmen wir mal an) unterscheiden sich definitiv voneinander (sie haben unterschiedliche Wertvorstellungen): das macht das Paradoxe der Situation aus. Die Paradoxie löst sich jedoch auf, wenn man weiß: hier geht es nicht um eine Klärung der Frage, was an und für sich richtig ist und was falsch, welche Institution besser, welche schlechter ist, sondern lediglich darum: wie kann ich in A glücklich sein und wie kann ich gleichzeitig in B glücklich sein? Der Rest ist mir scheißegal. Womöglich geht diese objektive Diskrepanz der Institutionen nicht ohne psychosomatische Beschwerden im Subjekt ab, das den Spagat zwischen den diskrepanten Institutionen vollzieht: das Subjekt, das diese Diskrepanz womöglich als Leiden hinterrücks, hinter dem Rücken des tatsächlich immer wieder in der Fassade neu glücklichen Subjekts, als angeblich rein materielles und angeblich völlig individuelles Leiden in sich abbildet.

 

2. Oder beispielsweise, warum manche Menschen heute so sind und morgen (ganz) anders. Sie wenden sich als Mitglieder glücklicher Heerden von einer Heerde weg und einer anderen (vielvesprechenderen) zu. Da zählt nicht mehr, was sie in der vorigen Heerde alles schönes und wichtiges an Heerdenbewußtsein verkündet oder mitgemacht haben. (Vielleicht war dies eine Unglücksheerde und nun haben sie endlich die wahre Glücksheerde gefunden?). Jetzt jedenfalls sind sie in der neuen Heerde und ihr Geschwätz von damals kümmert sie nicht mehr. Wieder einmal hat man die Inkonsistenz dessen, was an und für sich richtig und was falsch ist. Es wird von glücklichen Heerdenmenschen auch gar nicht der Versuch gemacht, Konsistenz herzustellen. Das Inkonsistente: hier wird es wahr!

 

3. Tatsächlich gibt es die glückliche Heerde der rational denkenden, kritischen Leute nicht (eine der wenigen Ausnahmen bzgl. Heerdenbildung!). So sehen dieselben, wie auf einer Tribüne, lediglich als ewig Außenstehende, wie die Gatter auf- und zugehen, in welche die glücklichen Heerden mit Hilfe der Bourgeois-Medien hineingetrieben werden. - Sie, die Beobachter selber, als rational denkende Menschen, bilden eine Art unglückliches Bewußtsein. Ein Zustand, den man keinem empfehlen sollte! (Paradigmatisch dazu: Friedrich Kellner: "Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne": Tagebücher 1939-1945).

 

Wenn ich die Wahl hätte zwischen Glücklicher Heerde und unglücklichem Bewußtsein?

 

Kann ich nur jeden beglückwünschen der zur Glücklichen Heerde gehört! Es sind gute Leute, ich weiß, sie wollen nix Böses, ich weiß, sie werden lediglich verführt (kommen sich aber dennoch schlau und unmanipulierbar vor), ich weiß. Sie leeren die Krankenkassen mir ihrer Psychosomatik, d.h. mit ihren Krankheiten und Operationen, ich weiß – aber es ist ja ihr eigenes Geld. Sie interessieren sich nicht wirklich dafür, was an sich richtig ist, ich weiß. Sie interessieren sich hauptsächlich nur dafür, was geglaubt werden soll. Ich weiß. – Ich weiß jetzt, daß ich früher selber dazu gehört habe. Und daß ich bisher 38 unglückliche Jahre gebraucht habe, mich davon zu lösen – und wahrscheinlich noch etliche Jahre mehr dazu brauchen werde. – Allerdings hätte ich auch gerne noch mein altes Glücksgefühl wieder. Ich weiß, daß das ein Widerspruch ist. Dennoch...