Zwei Typen Bewußtsein

24.10.09

 

Zwei verschiedene Typen von Bewußtsein

 

Es scheint eine große Errungenschaft der Aufklärung zu sein – und erst recht der psychoanalytisch-soziologisch-pädagogisch-politischen Aufklärung des 20.Jhdts. - , daß sich mittlerweile 2 verschiedene Bewußtseinstypen profiliert haben.

 

Man kann sagen: es handelt sich einerseits um spontanes Bewußtsein und  andererseits um Meta-Bewußtsein z.B. bzgl. jenes spontanen Bewußtseins. Das spontane Bewußtsein ist getrieben und nicht eigenständig souverän. Es besteht in gesellschaftlichen Reflexen und nicht in gesellschaftlichen Reflexionen. Die Reflexionen andererseits beziehen sich (zunächst) mehr oder weniger kritisch, d.h. reflexiv, auf jene gesellschaftlichen Reflexe - d.h. sie stehen in dialektischer Wechselbeziehungen zu ihnen - können aber durchaus auch unabhängig davon sein.

 

Beispielsweise ist ein Mensch reflexhaft getrieben, sich Wissen anzueignen, das ihm in einem bestimmten offiziösen gesellschaftlichen Kontext Anerkennung verschaffen könnte – etwa Wissen um die vorteilhafteste Frisur, oder wie frau sich die Körperhaare abrasiert. Denen geht es also nicht um philosophisches Wissen i.e.S. sondern um reines Anerkennungswissen. Man könnte sich – nebenbei gesagt - sogar mit philosophischem Wissen schmücken wollen wie mit einer adretten Frisur. Wahrscheinlich hat uneigentliche Philosophie eben nichts anderes als jene Funktion des Anerkennungswissens.

 

Die Getriebenheit des reflexartigen Bewußtseins ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß zu seiner Grundkonstituente ideologische, d.i. haltlose Argumentation bzgl. eines Zwecks gehört. So z.B. könnte jene ‘moderne’ Frau, die sich die Körperhaare abrasiert, angewidert erklären: “Körperhaare sind unhygienisch”. Andererseits könnte die gleiche Frau größten Wert auf ihre Kopfhaare legen - wodurch die Unhaltbarkeit der Argumentation offensichtlich wird. Die Haltlosigkeit der Argumentation hat hier nicht den Stellenwert des normalen Irrtums sondern hat eine soziale Rechtfertigungs-Funktion. Dieser systematische Stellenwert ist es, was eine haltlose Argumentation zur ideologischen Argumentation macht.

Das reflexive Bewußtsein hat sich mit Hilfe von Philosophie und Wissenschaft herausgebildet - was nun nicht heißen soll, daß alle Philosophen und Wissenschaftler tatsächlich dieses reflexive Bewußtsein besitzen. Es heißt lediglich, daß es in den akademischen Real-Institutionen die beiden Typen des Bewußtseins nebeneinander gibt, daß dort jedenfalls klassischerweise gehäufter jenes reflexive Bewußtsein auftritt als bei der Masse der sonstigen Institutionen.

Bei der Kunst ist es besonders interessant. Vor allem die Literatur, das Theater, der Film, auch die Musik, haben eine lange Tradition dieser beiden Typen von Bewußtsein. ‚Vulgärliteratur’,  ‚Hollywood’, und ‚Schlager’,   beispielsweise befriedigen oder symbolisieren in der Regel die Getriebenheit des reflexartigen Bewußtseins, sind insofern ‚anspruchslos’, was nicht ausschließt, daß hier in vielerlei Hinsicht manipulative technische Raffinesse herrscht. Andererseits verbindet der Reflexionshungrige gerade mit Kunst und Literatur die Sonne des Geistes. – Man kann vielleicht definieren: anspruchsvolle Kunst ist explorativ in Bezug auf jenes reflexive, anti-ideologische Bewußtsein. – Damit meine ich allerdings keineswegs die sog. ‚moderne Kunst’ heutiger ‚Documentas’ oder Schauspielhäuser. Diese wiederum ist in meinen Augen eine interessante Form von getriebenem Bewußtsein der sog. Bildungsbürger, die sich an die gegebene Verhässlichung und Primitivierung der Schlaraffen-Welt anpassen wollen, also eine Art höherer Form von Vulgärkunst. ‚Höher’, weil sich die Sache an höhere Bildungs-Schichten wendet. – Ja, man kann sogar sagen: Es besteht offenbar eine starke offiziöse Tendenz, ernsthafte reflexive Kunst mit solcherlei und anderen Tricks auszubooten aus dem offiziellen Kunst-Kanon, indem die Stellen, wo reflexive Kunst in früheren Zeiten üblicherweise auftrat (beispielsweise in Theatern oder Kunstausstellungen) bzgl. der Reflexivität ‚ausgetrocknet’ werden. Ich halte das für ein typisches Symptom der heutzutage in den ‚Demokratien’ vorherrschenden (scheinbar nicht beweiskräftigen, und darum um so hinterlistigeren) ‚statistischen Diktatur’.

 

Man versucht üblicherweise, den Gegensatz zwischen diesen beiden Bewußtseinsformen (getrieben vs. reflexiv) unter den Teppich zu kehren. („War da irgendwas? – Nöö! - ist alles Ansichtssache”). Dennoch: Gewöhnliche, sozusagen ordinäre (d.h. nicht-statistische) Diktaturen versuchen die reflexive Bewußtseinsform, vor allem wenn sie kritisch wird, zu zensieren oder zu verbieten oder noch schlichter, die betreffenden kritischen Leute einfach um die Ecke zu bringen. Man denke etwa an das Verbot der Literatur von Solschenizyn im Ostblock vor 1989. - Und das ‚Dritte Reich’ mit seinen KZ und Verfolgungen kritischer Menschen – nicht nur  Juden, Zigeuner, Homos und Kriminelle -  war ja sowieso die Kulmination des getriebenen Bewußtseins in der bisherigen dt. Geschichte.

 

Die Verfassungsgeschichte seit dem 18. Jhdt. zum Thema der freien Meinungsäußerung ist meiner Ansicht nach sehr eng an dieses Problem des reflexiven Bewußtseins geknüpft. (Das müßte ich allerdings noch genauer überprüfen). Und dies ist für mich eigentlich der zentralste Punkt jeder modernen Verfassung: Die Meinungsfreiheit – ganz speziell eben auch für das reflexive, kritische Bewußtsein.

 

Zwar hat das gemeine (d.i. das getriebene) Volk wenig mit reflexivem Bewußtsein zu tun, weshalb alle diesbezüglichen verfassungsmäßigen Freiheitsrechte im Normalfall von den offiziellen Instanzen bis auf Nichtwiedererkennbarkeit relativ widerstandslos ausgehöhlt werden können. Im seltenen Spezialfall, nämlich daß das Volk (oder ein Teil des Volkes) endgültig die Schnauze voll hat von den extremistischen Tribulierungen seitens der Staatsmacht und den offiziellen Welten, da werden dann (manchmal) die Vertreter des reflexiven Bewußtseins hervorgekramt und es wird ‚Meinungsfreiheit’ gefordert – nämlich für deren Ansichten, denen man sich dann (angeblich) anschließen will.