17,02,10
Sir Karl Popper
Ich schätze schon seit sehr vielen Jahren Sir Karl sehr! Weil ich ihn und den ‚Kritischen Rationalismus‘ so schätzte (übrigens auch die ‚Kritische Theorie‘ der Frankfurter Schule), war ich in meiner Studienzeit in den 70er Jahren sogar als ‚Positivist‘ unter linken Studenten verschrieen. - Naja. Dogmatische Arschlöcher halt!
Jetzt hab ich hier ein (kleines) Problem mit Popper. Dass ich nach Widerlegungen meiner Hypothesen Ausschau halten sollte, mache ich sowieso automatisch, wenn ich was (ansatzweise wissenschaftliches) schreibe. Man wär ja blöd, wenn man es nicht täte! Popper hat diese ‚kritische‘ Haltung zu Recht in den Fokus gerückt. Jedoch hat Popper eine – für mich - merkwürdige Abstinenz. Diese will ich nun kurz beschreiben.
Während Popper viel für den Falsifikationismus (also die Widerlegungen) argumentiert, fehlt so gut wie vollständig eine Würdigung der Indizien, der Belege, der Illustrationen, der Beispiele für eine Theorie bzw. Hypothese. Wenn mir also beispielsweise jemand schreibt, er glaube nicht, dass Herr Sarrazin im guten Sinne mit dem Kritischen Rationalismus in Verbindung gebracht werden könne, so hätte ich doch gerne einige Belege für diese Ansicht bzw. für diesen Glauben. Ich kann doch nicht einfach sagen: sorgen Sie bitte für handfeste Versuche von Falsifizierungen Ihres Glaubens. Erst dann können wir weiter reden! – Eine ernsthafte Diskussion ist unter solchen Prämissen nicht möglich. Und eine solche Diskussion ist doch das, was Popper eigentlich unter Vernunft versteht! M.a.W. es scheint so, dass der Punkt ‚Belege‘ von Popper ausgespart wird. - Aber der Schein trügt. Denn lt. Popper sollte eine vorgebrachte Theorie oder Hypothese ‚gehaltvoll‘ sein. Wenn sie keinen Gehalt hat, braucht man sich auch nicht mit ihr abzugeben. (Objektive Erkenntnis 1973, S.175 unten). Und unter Gehalt kann man meiner Ansicht nach nur ‚Gründe‘, ‚Indizien‘, ‚Belege‘, ‘Beispiele’ und dergl. verstehen. Dennoch hätte ich gerne bei Popper diesbezüglich etwas mehr Substanz erwartet. Vielleicht gibt es diese irgendwo in seinen diversen Schriften, aber bislang habe ich dieselbe noch nirgends entdeckt.
Das böse Induktionsprinzip.
Beispiel (angelehnt an Popper):
In Rom geht die Sonne innerhalb von 24 Stunden einmal auf und einmal unter. Das haben Menschen dieser Welt-Gegend (ich behaupte: hauptsächlich Römer) seit Jahrtausenden festgestellt und als unumstößliche Wahrheit ihres Lebens festgehalten. Sie hätten es natürlich nicht als ihre unumstößliche Wahrheit festgehalten, wenn es einige Aussetzer gegeben hätte: die Sonne wäre einige Tage einfach nicht mehr aufgetaucht. Oder die Sonne hätte öfters auch mal nächteweise durchgemacht, wie ein alter Säufer, statt rechtzeitig abzutauchen. – ‚Natürlich‘ nicht! Also gab es genug Evidenz für diese, in den Augen der Römer, unumstössliche Wahrheit ihres praktischen Lebens. – Sie brauchten dafür weder Newton noch Einstein, noch Popper oder den Papst.
Also das Primäre ist hier die ‚unumstößliche‘ Erfahrung mit der Sonne und das weitaus Sekundäre ist die Überlegung (falls die überhaupt jemals einem normalen Römer in den Sinn kam): „Mensch, die scheiß-Sonne könnte doch eigentlich auch ganz anders, ...“ z.B. explodieren, wie schon so viele scheiß-Sonnen bisher im Weltall explodiert sind! - Oder auch: die Erde könnte sich neu bzgl. der Sonne arrangieren, sodass Rom jetzt am Nordpol liegt, wo die Sonne sich tatsächlich völlig anders verhalten würde wie im Alten Rom (es gäbe z.B. eine 6-monatige Mittsommernacht im Neuen Nordpol-Rom).
M.a.W. es könnte durchaus echte Wahrheiten (gemäß der Alten Römer) geben aufgrund von bisher ausnahmsloser Regelmäßigkeit. Das aber kann & darf lt. Popper, der sich diesbezüglich (zu Recht) an Hume hält, nicht sein. - Das wiederum scheint auch nur so. Denn da noch nie eine Falsifikation der typischen römischen Sonnenverhältnisse festgestellt wurde, ist die Römer-Behauptung nach Popper sehr wahrheitsähnlich – wenn auch nicht 100%ig wahr. Und für praktische Verhältnisse hienieden auf Erden (auch für Popper, when in Rome...) tatsächlich nichts weniger als sicher!
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Eine für mich persönlich großartige Errungenschaft der Popperschen Ansichten ist die Akzeptanz, dass man sich unter ‚Lernprozess‘ nicht das Reinziehen von ‚herrschenden Lehrmeinungen‘ vorstellen muss, sondern dass man sich (vor allem?) auch andere Sichtweisen (kritische Gegenansichten) reinzieht, um irgendwas besser verstehen zu können. – Auch dass ‚Lernprozess‘ nicht bedeutet, etwas kritiklos zu wiederholen, sondern möglichst viel Kritikfähigkeit aufzubieten gegenüber einem beliebigen ‚Lehrstoff‘. Jedoch nicht destruktive Kritik des Niedermachens, sondern konstruktive Kritik der möglichst haltbaren Argumentation.
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Ein weiterer sehr schöner Zug in Poppers Lehre ist für mich die kategorische Ablehnung des Szientismus. Unter demselben versteht Popper „das Nachäffen dessen, was weithin fälschlich für die Methode der Naturwissenschaft gehalten wird“. (Anmerkung 35 in dem Aufsatz „Zur Theorie des objektiven Geistes“ – in „Objektive Erkenntnis“, 1973, S.222). Popper verdeutlicht das am Beispiel der Historie (er hätte es, meiner Ansicht nach, auch am Beispiel der Statistik-Psychologie aufzeigen können):
<Ich muß aber noch weiter gehen und mindestens einige Fachhistoriker des ‚Szientismus‘ beschuldigen: Sie versuchen, die naturwissenschaftliche Methode zu kopieren, nicht wie sie wirklich, sondern wie sie angeblich ist. Diese behauptete, aber nicht existierende Methode ist die des Sammelns von Beobachtungen, aus denen dann ‚Schlüsse gezogen‘ werden. Sie wird von einigen Historikern sklavisch nachgeäfft. Man glaubt, man könne dokumentarische Daten sammeln, die dann wie die Beobachtungen der Naturwissenschaft die ‚empirische Grundlage‘ für die Schlüsse abgeben sollen.
Diese angebliche Methode läßt sich niemals zum Tragen bringen: Man kann weder Beobachtungen noch dokumentarische Daten sammeln, wenn man nicht vorher ein Problem hat.> (a.o.a.O. S.223)
Man sollte vielleicht besser sagen: „Diese angebliche Methode läßt sich niemals sinnvoll zum Tragen bringen“, denn irgendwelche Autisten können dir ganze Fahrplanwälzer oder Telefonbücher hersagen, warum nicht auch beliebige Datensammlungen? Doch um eine sinnvolle Theorie aufzustellen, braucht man lt. Popper erst mal ein Problem, das mit Hilfe jener Theorie oder Hypothese erklärt werden sollte. Und dadezu kann man dann natürlich auch Beobachtungen und dokumentarische Daten sammeln bzw. verwenden, die mit dem Problem und seiner Lösung zu tun haben könnten.
Und hier liegt eine weitere enorme Stärke der Popper‘schen Lehre: sein Bemühen um eine realistische Darstellung von wissenschaftlichen Theoriebildungsprozessen. - Popper fährt fort:
<Noch schlimmer als der Versuch, eine nicht praktizierbare Methode anzuwenden, ist der Götzendienst des sicheren oder unfehlbaren oder maßgebenden Wissens, das diese Historiker für das Ideal der Wissenschaft halten. Sicher bemühen wir uns alle sehr, Fehler zu vermeiden; und wir sollen traurig sein, wenn wir einen Fehler gemacht haben. Doch Fehlervermeidung ist ein armseliges Ideal: Wagen wir nicht, Probleme anzupacken, die so schwierig sind, daß Irrtümer fast unvermeidlich sind, so wird es keinen Erkenntnisfortschritt geben. Wir lernen ja am meisten aus unseren kühnsten Theorien, einschließlich der falschen. Niemand ist gegen Irrtümer gefeit; das Große ist, aus ihnen zu lernen.> (a.o.a.O. S.223f.)
Speziell zu dieser Thematik kann man bei Popper enorm viel finden. Man sollte sich also nicht von irgendwelchen aufgeblasenen Wissenschafts-Wixxern (möglichst noch in weißen Kitteln!) verarschen lassen, wenn man ernsthaft nach der theoretischen Lösung eines schwierigen Erkenntnis-Problems sucht. Und bekanntlich ist ja nix so praktisch wie eine gute Theorie!
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