11.01.2010
Inwiefern ist Argumentation sinnvoll?
Es gibt auch hier wieder mal zwei Fraktionen. Für die einen ist Argumentation lediglich eine Konvention, auf die sich irgendeine Menschengruppe – warum und wofür auch immer – geeinigt hat. Für die anderen ist es was essentiell Wichtiges, letztlich Unhintergehbares, was Lebensnotwendiges. Und insofern so etwas wie ein ‘Glaube’ im emphatischen Sinne. Es ist der Glaube an die Kraft der realistischen Argumentation. (Siehe als Beispiel: Richard Dawkins, Der Gotteswahn; englische Ausgabe: The God Delusion).
Der traditionell und konverntionell Gottgläubige mag wohl die Argumentation für bestimmte Zwecke gut heißen. Damit meint er in der Regel die engeren Zwecke der Naturwissenschaft und Technik und vielleicht auch des Rechtswesens. Aber als Lebensorientierung benutzt er die (realistische, ehrliche) Argumentation zur Lebensorientierung gewöhnlich nicht.
Das ist interessant, denn damit könnte man verschiedene Sachverhalte erklären. Z.B. warum in der christlich-demokratischen Spießergesellschaft die Soziologie und Sozialpsychologie, sofern sie kritisch und ernst zu nehmen (vgl. Was ist Wissenschaft) ist, weitestgehend ignoriert wird. Oder warum z.B. aus dem offizial-christlichen Bauch das Gewürm des Krieges immer wieder neu ersteht (vgl. Double-u Bush in USA). Denn diese Leute wissen (scheinbar) irgendwas Lebenswichtiges, Absolutes, das ihnen die Wahrheit verkündet und sorgen aber damit immer wieder für Unheil.
Was aber ist das Essentielle, Lebenswichtige, das hinter der Argumentation steckt? Gibt es das überhaupt? Ist die Argumentation nicht einfach nur ein Instrument für bestimmte Zwecke und sonst nix? Inwieweit kann realistische, ehrliche Argumentation einen weiterreichenden Anspruch haben – und wieso?
Meiner Ansicht nach ist das Phänomen Argumentation aus der griechischen Beweismathematik entstanden (seit 5. Jhdt. v. Chr.). Bekannterweise ist die aus der griechischen Mathematik immer weiter entwickelte Mathematik der Neuzeit das Haltbarste an Wissen, das wir überhaupt kennen. Zumal auch die Physik bzw. Astronomie überaus erfolgreich wurde, nachdem sie mathematisch wurde (Archimedes, Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton und folgende). Der Beweis, der diesen Wissenschaften zugrunde liegt, ist das, was man erfolgreiche, haltbare Argumentation nennen kann.
Aber handelt es sich hier nicht einfach nur um irgendwelche menschenferne (gesellschaftsferne) Spezialgebiete formalistisch denkender Mathematiker? Was hat das mit uns zu tun? Mit unseren täglichen Problemen des Miteinanderseins? Was hat das mit Eifersucht und Betrug, mit Liebe und Haß, mit Freude und Leid, Glück und Unglück. Anerkennung und Ausgestoßensein, mit Gerechtigkeit und Willkür, mit Irrsinn und Leidenschaft, mit Krieg und Frieden zu tun?
Erst mal natürlich gar nix (außer dem Versuch der Astrologie, Lebens-Schicksale und beispielsweise Kriegsgeschehnisse durch Planetenkonstellationen zu bestimmen, was jedoch keine argumentative Beweiswissenschaft war). Aber schon früh begannen Philosophen, die argumentative Verhaltensweise der Beweis-Mathematik auch für das normale menschliche Leben fruchtbar zu machen. Vorbild war Sokrates. Jedoch waren das relativ unfruchtbare erste Ansätze ohne wirklichen Erfolg.
Aber dennoch, im Laufe vieler Jahrhunderte schälte sich sehr allmählich auch in Bezug auf das menschliche Leben, vor allem in den letzten Jahrzehnten, so manche wissenschaftliche, d.h. argumentativ haltbare, Erkenntnis heraus. Ich denke z.B. an die moderne soziologische Rollentheorie. Oder an die Einsichten von Reformpädagogen wie Alexander Neill oder Janusz Korczak. Oder an die Forschungen zur anaklitischen Depression, oder an die genialen Erkenntnisse von Erik H. Erikson über die äußerst wesentlichen ersten Phasen der frühkindlichen Entwicklung.
Daraus folgt: Man kann, zumindest heutzutage, durchaus sinnvoll und vor allem auch haltbar, in Bezug auf eine humanistische Lebensorientierung argumentieren, ohne explizit auf den äußerst mißbrauchten Begriff ‚Gott’ angewiesen zu sein. M.a.W. der Begriff ‚Gott’ kann mittlerweile humanistisch überholt werden. Man fragt sich dann: was ist denn nun das eigentlich Gute? Woher kommt es? Worin besteht es? Wie können wir es schützen und fördern? (Gott im Sinne von ‚Das Gute’). Und auch die Frage nach dem Weltganzen (Gott im Sinne von ‚Schöpfer’ und über allem stehend, Jenseits von Gut und Böse) wird durch die moderne Kosmologie und sonstige Naturwissenschaften immer genauer beantwortet - und zwar ohne einen ‘Schöpfer’ als Demiurg.
Jeder kennt mittlerweile den Begriff ‚Ökologie’. Das beispielsweise ist ein Teil jenes ‚Guten’, das sicherlich etliche vormals Gottgläubige mit der Vorstellung des Göttlich-Guten assoziiert haben: die Schönheit der Natur, wie alles wunderbar ineinandergreift, die Harmonie in der Natur, usw.
Die Liebesfähigkeit, die im Christentum eine hervorragende Rolle spielt, ist ein Wesensmerkmal der Säugetiere. Vielleicht auch anderer Tiere (z.B. Vögel), die uns weitaus ferner stehen als Grizzlies, Ratten, Tiger, Wölfe oder Wale. – Diese Liebe sollte man hoch halten, aber auch sehr genau sehen, wo die innerartlichen und außerartlichen Grenzen diesbezüglich sind. Das leistet die genauere wissenschaftliche, kritische dokumentarische Beobachtung samt Theoriebildung – auch innerartlich in Bezug auf menschliche Gesellschaften. Die Blankovollmacht: Liebe ist gut, wird damit ein wichtiges Stück weit relativiert, aber dennoch: das Prinzip wird beibehalten.
Ich denke, dies zeigt, daß die Argumentation als sinnvolle, ja geradezu gläubige Lebenshaltung ziemlich weit getrieben werden kann – viel weiter noch als der Horizont der Gottgläubigkeit dies erahnen läßt. Und daß dennoch die ursprüngliche (gutartige) Gottgläubigkeit, sofern sie ernst gemeint war, erhalten bleibt und sogar noch stark präzisiert wird.
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