02.02.11
Erleuchtung bzgl. der Vorurteile mir gegenüber
Ich habe am 15.11.10 in diesem Reflexionsjournal geschrieben: „Mein Problem, daß mich die offizielle Welt nicht mag, kenne ich aus vielerlei Erfahrungen“. Diverse dieser Erfahrungen – aber auch positive Ausnahmen – hatte ich damals geschildert.
Nun kam mir kürzlich eine Idee, die vermutlich manches erklären kann und ein gänzlich neues Licht auf die Sache wirft. Um es kurz zu machen, die Idee besteht darin: Es ist die faktische Minderwertigkeit dieser Spießer, die sie dazu bringt, in die Offensive zu gehen (und zwar aus unbewußter Angst vor mir), und mich als das minderwertige Subjekt zu deklarieren.
Beispielsweise die Spießer-Lehrer, die mich verachteten und unterdrückten, waren doch Leute, bei denen vielerlei Handlungsweisen an und für sich nicht haltbar waren. Die nicht nur pädagogisch unfähig waren, sondern auch noch halbwegs dumm & bösartig. Folglich mußte doch so ein tendenziell wacher, kritischer, lebendiger und aufmerksamer Beobachter wie ich, für sie eine innere Bedrohung darstellen: sie könnten doch in ihrer Hohlheit durchschaut werden. Da ihnen das (unbewußtes) Unbehagen verschaffte, konnten sie sich dies nur pseudo-mäßig aus der Welt schaffen, indem ich als der Unfähige dargestellt wurde von ihnen.
Da fallen mir gerade drei Episoden mit dem ach so gerechten und allseits geachteten Klassenlehrer Kapp in der Aufbau-Schule (spätere “Mittelschule”, einem Teil der Gießener Schillerschule) ein. Ich war damals zwischen 11 und 16.
Die erste war eine Vertretung für ein paar Tage, als Kapp abwesend war. Die Vertretung war ein junger Unbekannter, der es verstand, einen lebendigen Unterricht zu produzieren. Dabei stellte sich heraus, daß ich der beste Schüler war, worüber alle erstaunt waren. Als dieser junge Unbekannte das dem Lehrer Kapp nach der Rückkehr erzählte, konnte der offenbar nix damit anfangen. Für ihn war das einfach ein Kuriosum. In seiner formalen Gerechtigkeit hat Kapp das einmal kurz im Unterricht danach erwähnt.
Die zweite Episode ist ungefähr genauso gestrickt. Nur daß Kapp diesmal selbst dran beteiligt war. Es ging um die Bedeutung von Fremdwörtern. Erstes Fremdwort wußte niemand außer mir. Zweites Fremdwort – dasselbe. Und um jetzt zu klären, ob das nur reiner Zufall war, wollte er die Bedeutung eines dritten Fremdwortes wissen. Auch dieses konnte nur ich erklären. Die ganze Klasse war atemlos vor Überraschung. In seiner formalen Gerechtigkeit blieb ihm nix anderes übrig, als vor versammelter Mannschaft mir eine mündliche 1 in Deutsch in sein hl. Notenbuch einzutragen. – Damit ist aber die Geschichte noch nicht zu Ende. Einige Monate später beobachtete ich ihn, wie er sein hl. Notenbuch durchstudierte. Und siehe da: er fand diese kuriose 1, wußte damit jedoch offenbar nix mehr anzufangen – und strich sie einfach wieder durch. – Cool, ne?
Dritte Episode. Aus Zeugnis-Gründen wollte er herauskriegen, welche Note ich in Turnen/rsp. Sport verdienen würde. Deswegen ging er eines unbekannten Morgens mit mir ganz allein runter in die Turnhalle. Der Test ergab gnädigerweise noch eine 4 und keine 5, obwohl ich ja an sich eine Flasche war. Ich sollte irgendwelche, die Hinterwand hochgehenden Querstangen irgendwie mit den Armen nach hinten – halt so eine typische Teufelei aus der nach Altschweiß stinkenden Turnhalle. Diese Turnhalle benutzte er ähnlich wie den Geometrie-Unterricht. Das war einfach sein Ding. Er war der Eingeweihte. Daß er eigentlich ein Idiot war, erkennt man daran, daß es ihn nicht die Bohne interessierte, daß ich ein ziemlich guter Schwimmer und Weit-Taucher war – und außerdem ein keineswegs schlechter Badmington-Spieler, nebenbei auch noch interessiert an Jiu-Jitsu.
Was war der Kapp für ein Mensch? Wieso könnte er meine eingangs aufgeführte Idee bestätigen? Er war übrigens keinesfalls der Schlimmste, da gab es wesentlich bösartigere und dümmere Figuren unter den edlen Lehrerinnen und Lehrern. Aber er hatte diesen besonderen Anspruch: er sei der eigentliche, geradlinige Mensch, das Vorbild schlechthin.
Wenn man ihn im Schwimmbad nackt sah, bis auf seine Badehose, sah er schlimm aus: dürr, knochig, mit Glatze und bleich wie der Tod. Er wurde allerdings uralt und war bis zum Schluß noch im Männerturnverein aktiv. - Er war außerdem Nazi, der sein Lehrerexamen 1935 mit irgendwelcher zeitgemäßen (Rassen?) Biologie abschloß. Als Unteroffizier machte er dann im Krieg in Rußland herum, und irgendwo in der Gegend bei der Krim müssen ihn die Russen 1943 das Fürchten gelehrt haben. Er erzählte öfters vom Krieg: soll man Familienväter in den gefährlichen Spähtrupp gerechterweise mit einteilen wie Ledige oder muß man sie schonen? – Außerdem war er einige Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft. Er stammte aus einer Gießener Bürgerfamilie mit einem Geschäft in der Innenstadt.
Er konnte die Kinder verblüffen mit seiner formellen Gerechtigkeit. Er hätte genausogut auch deutscher Richter werden können, statt Volksschul-Lehrer (später Mittelschul-Lehrer). Trotzdem war er nicht wirklich gerecht, wie die obigen drei Episoden zeigen. Er hatte auch keine echte menschliche Wärme. Statt dessen hatte er einige Lieblings-Schüler und –Schülerinnen. Vor allem die fleißige, brave, halbwegs schöne und halbwegs gescheite Heide-Lore Hummel aus dem Sudetenland hatte es ihm angetan. Sie stellte irgendwie ein Ideal für ihn dar.
Er konnte die Kinder verblüffen mit seiner schicken, dunkelblauen Turnausrüstung, und vor allem, wenn er am Barren, Reck & Co. kunstvoll seine Figuren hinlegte. Aber uns diesbezüglich was beibringen, das konnte er allerdings nicht. Ich kann das beurteilen, weil ich als Mitglied in einem Turnverein (wenige Jahre später) einen wirklichen didaktischen Könner erleben durfte (ein Beamter der Stadtverwaltung), und da konnte ich selber plötzlich Sachen bewerkstelligen, für die ich doch angeblich die geborne Flasche war! - Auch für Mathematik fühlte er sich voll zuständig. Aber ernsthaft beibringen konnte er auch hier selbstverständlich niemand was, das war nicht sein Thema. Wir sollten ehrfürchtig auswendig lernen. Er war der Zauberkünstler, der mit Formeln und Figuren an der Tafel gewichtig und kunstvoll (und natürlich für mich unverständlich) herum hantierte, die wir dann in unsere Hefte abschreiben durften. Ich hab diese kuriosen, sauber gemalten Schul-Hefte heute noch!
Kurz und gut. Es gab genug Beispiele, sein entfremdetes Wesen mehr oder minder durchsichtig zu machen – für jemanden wie mich. Ich weiß nicht, ob beispielsweise für seine Lieblingsschülerin Heide-Lore Hummel oder überhaupt sonst jemand in der Klasse. Ich war ja auch letztlich der einzige Außenseiter - bis auf „Gori“ (nach Gorilla), der aber nicht lange mit von der schönen Schul-Party war. Der arme kleine Gori war die Zielscheibe des Spotts der ca. 10 Jungen der Klasse (der Rest waren Mädchen). Er lächelte immer versonnen in sich reingebeugt dazu. Ich kann nur hoffen, daß ich mich nicht selbst daran beteiligt habe!
Bei mir war das was anderes: ich konnte mich wehren.
Beispielsweise hatte der Maulstinker Rüdiger Braun, ein blond gescheitelter Mitschüler (vermutlich Nazi-Elternhaus), mit dem ich eigentlich ziemlich viel zu tun hatte, plötzlich die Eingebung, den Jungens in einer Schulhofpause zu versichern: Er hätte mich im Bergwerkswald heimlich genau beobachtet, wie ich ein Mädchen an einen Baum gefesselt hätte und dann… (… man weiß ja! weiter hat er nie erzählt). Ich war völlig platt über diese aus der Luft gegriffene Phantasieleistung! Das Einzige was daran stimmte war, daß ich äußerst gerne im romantischen Bergwerkswald war. – Was blieb mir übrig, als ihn nach der Schule zum Kampf in den nahegelegenen Trümmern rauszufordern. Danach lief er mit blutender Nase zu meiner Mutter am Wurstbudchen und beschwerte sich über mich.
Der arme Maulstinker, gegen den ich eigentlich nie wirklich was hatte, hat es also für nötig befunden, ein Vorurteil gegen mich zu produzieren und dies auch noch auf diese drastische Weise unter die Mitschüler zu bringen. Was war – um jetzt meine Theorie anzuwenden - sein Problem? Offenbar muß er gespürt haben, daß er in vielerlei Hinsicht arm dran war. Obwohl er in meinen Augen durchaus ein starker Kerl war. Aber wenn ich es mir genauer überlege, gab es bei mir wesentlich mehr Action als bei ihm. Und wer weiß, mit welchen sexuellen Verklemmungen (die er auf mich projizierte) er sich (schon) damals rumplagte, und was sie eigentlich bedeuteten?
Daraus kann man einen weiteren Punkt lernen. Diese Beziehungs-Geschichte bzgl. Vorurteil muß keineswegs symmetrisch sein. Währenddessen ich den Maulstinker durchaus noch (in Grenzen) geachtet habe, hat er (vermutlich zu Recht) apperzipiert, daß ich (so, wie ich strukturiert bin) ihn eigentlich (bei genauerem Durchschauen) verachten müßte. Und um dem vorzubeugen, hat er schnell diese Vorurteilsprojektion im Stile eines wilden Antisemiten bewerkstelligt – um eben mich als das eigentlich minderwertige Wesen (im Gegensatz zu ihm) hinzustellen.
Das wäre die Erklärung für den Überraschungseffekt, den ein vom Vorurteil Betroffener nicht selten erlebt: er hat doch eine gewisse Achtung, gar teilweise Hochachtung für den/oder die X, und da plötzlich, quasi aus heiterem Himmel, rollt dann diese negative Haltung von seiten der/des X auf ihn zu. (Viele deutsche Juden waren übrigens ab 1933 von dieser Asymmetrie betroffen).
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