Soziologische Phantasie

 

11,05,11 – Soziologische Phantasie

 

 

Ich möchte zunächst einleitend anhand eines Beispiels verdeutlichen, was ich unter mangelnder soziologischer Phantasie verstehe:

 

Bei einem qualitativen Interview, das ich in der Anfangszeit der Grünen (1981) im Stadtverband Gießen machte, war eine meiner Fragen, ob man sich vorstellen könne, daß sich die Grünen zu einer Art ‚Grüner FDP’ entwickeln könnten – was ja jetzt, 30 Jahre später, in der Tat der Fall ist. Die Antwort war damals durchgängig Empörung. Etwa: daß man sich das mit den Leuten, die die Grünen bilden, ganz und gar nicht vorstellen könne.

 

Die Antworten zeugen offenbar von mangelnder soziologischer Phantasie. Denn erstens muß ja die Art von Leuten von Heute in den Grünen nicht mehr die Art von Leuten von Morgen in den Grünen sein. Und zweitens ist ja bei soziologisch Einsichtigen bekannt, daß der typische Trend sozialkritischer Parteien hin zur Offizialität geht. Man denke nur an Robert Michels Analyse der SPD von 1912, oder auch an Paul Mattick (Spontanität und Organisation. Suhrkamp, Frankfurt 1975 - ursprünglich ca. 1950)

 

 

Nun zu meinem eigentlichen Thema.

 

„Wir müssen unsere sozialen Sicherungssysteme erhalten, indem wir Ausländer reinholen, weil unsere Gesellschaft immer mehr vergreist und die Deutschen zuwenig Nachwuchs erzeugen.“ – So ungefähr lautet eine gängige politische Argumentation heutzutage.

 

In dieser Ansicht gibt es jede Menge interessanter Voraussetzungen, die von soziologischer Phantasielosigkeit zeugen. Man weiß eigentlich gar nicht, wo man anfangen soll – und letztlich beißt sich die Katze in den Schwanz.

 

1. Das Hauptproblem (den kritischen Angelpunkt) sehe ich darin, daß ‚die Wirtschaft’ in den 70er Jahren die Initiativen zur Humanisierung der Arbeitswelt, (etwa von Horst-Eberhard Richter & Co) nicht aufgegriffen hat. Folglich stellte die Arbeitswelt weiterhin etwas dar, dem man in der Regel (in den unteren Rängen zumindest) möglichst bald entfliehen können müßte, um endlich ein halbwegs glückliches Leben führen zu können. Arbeitswelt und Humanität sind also (nach wie vor) weitgehend inkongruente Gegebenheiten.

 

Das also ist meiner Ansicht nach die Ursünde der soziologischen Phantasielosigkeit, die für dieses Thema von Relevanz ist. ‚Humanisierung der Arbeitswelt’ setzt natürlich besondere, positive soziologische Phantasie voraus. Dafür aber hatten die damaligen (und heutigen) Nieten in Nadelstreifen wenig Sinn.

 

2. Deutschland ist total überbevölkert. Statt daß man nun heilfroh wäre, daß die Geburtenrate sinkt, zeigt man sich offiziell durchgängig entrüstet – wie wenn man es mit Drückebergern vor einer verdammten Pflicht und Schuldigkeit dem Vaterland gegenüber zu tun hätte. (Wer ist eigentlich für diese ‚Offizialität’ -  wie wenn man sich im Kriegszustand befände - zuständig?)

 

3. Wieso gibt es als Lösung für das Problem der Sozialkassen nur ausländische Arbeitskräfte? Wieso können die Rentner und Pensionäre mit ihrer langen Lebens- und Berufserfahrung nicht noch angemessene freiwillige Jobs finden, die bezahlterweise die Gesellschaft bereichern könnten und aufgrund der Bezahlung auch noch die Sozialkassen aufmöbeln? – Das berechtigte Hauptgegenargument gegen diese Ansicht: Wenn beispielsweise Lehrer heilfroh vor der Schulhölle vorzeitig in die Pension entfliehen – wieso soll jetzt ausgerechnet ein Pensionär sich dort noch freiwillig produktiv betätigen wollen? Der wird doch auch baldmöglichst das Weite suchen. Folglich landen wir hier als erstes bei dem Thema der Humanisierung der Arbeitswelt. (Ganz abgesehen davon, daß die beamteten Lehrer, vermutlich zu Recht, eine Gefahr der billigen Unterhöhlung ihrer Position seitens des Staates wittern, um Geld zu sparen).

 

4. Da das Thema ‚Humanisierung der Arbeitswelt’ ein utopisches Tabu ist, gibt es auch gar nicht die Möglichkeit, Rentner und Pensionäre freiwillig der Erwerbswelt beizuordnen – die würden sich weitestgehend bedanken für diese Idee (sie sind ja in der Regel heilfroh, daß sie dieser finsteren Arbeits-Welt endlich entronnen sind) – folglich bleibt in der Tat nur noch die Forderung von irgendwelchen obskuren Professoren, möglichst viele Ausländer auf Deutschland loszulassen. ‚Nebenbei’ sorgt das für Aufträge bei Handwerk und Autoindustrie, da ja diese Ausländer Wohnungen brauchen, oder gar selber ganze Häuser bauen wollen und natürlich unbedingt Autos, Fernseher usw. brauchen – die sorgen also für zusätzlichen Umsatz – und bilden auch noch ein Reservoir billiger und teilweise williger Kräfte. Und das ist vermutlich des Pudels Kern. Hierin liegt die sozusagen ‚realistische’ soziologische Phantasie jener Professoren und der mit ihnen verbundenen Politiker und Unternehmer. Ihnen ist folglich soziologische Phantasie keineswegs abzustreiten. Aber meiner Ansicht nach handelt es sich lediglich um eine negative, kurzsichtige, die nicht über den interessengebundenen Tellerrand hinausblicken kann.

 

5. Daß aufgrund all dieser Umstände und noch weitaus mehr, die die Perversität dieser Gesellschaft auf immer höhere Stufen schraubt, immer mehr Leute widerwillig erkennen müssen: Kinderkriegen ist so ungefähr das Blödeste, was man hier machen kann, ist meiner Ansicht nicht verwunderlich. – Und so beißt sich die Katze bei diesem Thema in den Schwanz.