29.04.11
Klassengesellschaft und geistige Welt
Ich lese gerade ein geschwätziges und teures Wissenschaftler-Buch zweier Herren von Adel:
Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld – Wie wir uns erfinden. Eine Autobiographie des radikalen Konstruktivismus. Heidelberg 2007 (3. Auflage, ursprünglich 1999) . Den beiden redseligen, in ihrer jeweiligen Biographie kramenden, adeligen Herren standen offensichtlich von Jugend an vielerlei institutionelle Tore offen – und sie und ihre Familien kannten in der Geisteswelt persönlich Hinz & Kunz von Rang. Sie sind auch in der Nachkriegszeit immer weich gefallen. Ihr Leben spielte sich bei allen Turbulenzen und Verarmungen trotzdem in oberen Sphären des Geistes ab. Zweifellos sind es besondere Könner und Wissende auf den verschiedensten Gebieten. Und wenn ich mir das anschaue, merke ich, was ich doch selber für ein geistiger Heimwerker bin – der zudem keineswegs einen ‚guten’ familiären Background hat.
Daraus folgt für mich: auch die geistige Welt ist weitgehend nach klassengesellschaftlichen Prinzipien organisiert. Die Wenigen, die davon institutionell für eine kurze geschichtliche Periode eine Ausnahme machten, waren die kommunistischen Länder. - Auch die Juden, insofern sie geistig interessiert waren, machten in der Epoche ihrer ‚Emancipation’ eine Art von Ausnahme, als sie zwar meist einen (halbwegs) ‚guten’ familiären Background hatten, aber eben nicht zum Adel, den Upperclasses etc. gehörten. Dennoch erreichten sie bedeutende, manchmal sogar die bedeutendsten geistigen Leistungen überhaupt. Doch hatten sie, zumindest in Deutschland, schwere Anerkennungsprobleme – bis daß sie mit ihren Talenten nach Amerika emigrierten (und dort oft sehr erfolgreich wurden) – deutscherseits von staatlich an die Macht geratenen depperten ‘Ariern’ verfolgt und umgebracht.
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Es wäre schon ein interessantes Forschungsprojekt:
Was hat es mit der Klassengesellschaft im Reiche des Geistes auf sich?
Doch wie geht man diese Frage an? - Was jetzt an Beispielen kommt, soll lediglich zum Nachdenken anregen:
1. Beispiel Carl Friedrich Gauß
Carl Friedrich war das einzige Kind der Eheleute Gerhard Dietrich und Dorothea Gauß, geb. Benze. Die Mutter, eine nahezu analphabetische, jedoch in hohem Grade intelligente Tochter eines armen Steinmetzen, arbeitete zunächst als Dienstmädchen, bevor sie die zweite Frau von Gerhard Dietrich Gauß wurde. Dieser hatte viele Berufe, er war unter anderem Gärtner, Schlachter, Maurer, Kaufmannsassistent und Schatzmeister einer kleinen Versicherungsgesellschaft. Anekdoten besagen, dass bereits der dreijährige Carl Friedrich seinen Vater bei der Lohnabrechnung korrigierte. Später sagte er von sich selbst, er habe das Rechnen vor dem Sprechen gelernt. Sein Leben lang behielt er die Gabe, selbst komplizierteste Rechnungen im Kopf durchzuführen. (Quelle: Wikipedia)
Gauß war also ein mathematisches Spezial-Talent, das es (bei gutem familiären Background) schaffte, in die obersten Ränge des Geistes vorzudringen.
2. Beispiel: Freud’s Vater war Wollhändler. Freud wird 1902 Professor für Neuropathologie in Wien.
Der jüdische Freud (mit halbwegs gutem familiärem Background) wird tatsächlich Professor. Es gelingt Freud, eine der wichtigsten Geistesgrößen der Moderne zu werden.
3. Beispiel: Der jüdische Psychoanalytiker Wilhelm Reich (ein Schüler Freuds). Sein Vater war Gutsbesitzer. Reichs vielerlei Aktivitäten waren zwar geistig sehr einflußreich und keineswegs unwichtig. Doch eine offizielle Anerkennung im Reich des Geistes erhielt er nie.
4. Beispiel: Robert Mayers Vater war Apotheker. Mayer selber wurde Arzt und stellte als erster den Energieerhaltungssatz auf mit einem quantitativen mechanischen Wärme-Äquivalent (1842). Statt Anerkennung landete er ab 1850 jahrelang in frühzeitlichen psychiatrischen Einrichtungen mit entsprechenden Foltermethoden, die ihm seine irren Ideen austreiben wollten. Erst später, ab 1867, wurde er geehrt und sogar geadelt.
5. Beispiel: Von Helmholtz hatte - offenbar wegen seiner bedeutenden Rolle in der offiziellen Wissenschaft - ab 1883 (ca. 10 Jahre vor seinem Tod) den Adelstitel:
Helmholtz was the son of the Potsdam Gymnasium headmaster, Ferdinand Helmholtz, who had studied classical philology and philosophy, and who was a close friend of the publisher and philosopher Immanuel Hermann Fichte. Helmholtz's work is influenced by the philosophy of Fichte and Kant. He tried to trace their theories in empirical matters like physiology. (englische Wikipedia)
Helmholtz hatte demnach relativ gute Voraussetzungen, zu den Bevorzugten in der Klassengesellschaft des Geistes zu gehören. „Als Universalgelehrter war er einer der vielseitigsten Naturwissenschaftler seiner Zeit und wurde auch Reichskanzler der Physik genannt.“ (Quelle: deutsche Wikipedia)
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Es ist ziemlich unklar, ob solcherlei Aufzählung viel bringt. Man weiß ja auch nicht, inwieweit die Brecht’sche Sentenz hier trägt:
Denn die einen sind im Dunkeln Und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte Die im Dunkeln sieht man nicht.
(Dreigroschenoper).
Man braucht dabei beispielsweise nur an Einsteins erste Frau Mileva Marić (kyrillisch Милева Марић) zu denken. Sie war seine physikalisch mitdenkende Dialogpartnerin zur Zeit von Einsteins Entwicklung der Speziellen Relativitätstheorie.
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