Utopie vs.gesellschaftliche Realität

14,04,21 – Utopie vs. moderne gesellschaftliche Realität

Die 60er Jahre waren prinzipiell optimistisch gestimmt. Deshalb gab es ab 1962 diese Aufbruchsbewegung in der Musik (z.B. Beatles)  und später, ab 1965,  vorwiegend bei den studentischen Aktivitäten der westlichen Welt (aber auch im Ostblock), eine künstlerische, politische, lebenskunstmäßige Aufbruchsbewegung.

Durch den Einfluß der ‚Neuen Linken‘ auf jene Bewegung ergab sich ab Ende der 60er bis weit in die 70er Jahre hinein ein utopisches Element der Hoffnung auf eine mehr oder minder grundsätzliche Gesellschaftsveränderung. Dies hat sich mehr und mehr in Luft aufgelöst, je siegreicher der Neoliberalismus seit Reagan und Thatcher auf seine Weise die Gesellschaft unter seine Fittiche nahm. Entsprechend ging auch die optimistische Aufbruchsbewegung vor die Hunde, was man sehr schön an der Entwicklung der ‚Grünen‘ in Deutschland studieren kann. Was an Optimismus seit der Jahrtausendwende übrig bleibt, ist neben der Hoffnung an der Teilhabe an dem Superreichtum der Überreichen ein rein technischer Mittelschicht-Optimismus, beispielsweise von sich stetig weiterentwickelnder Computertechnologie, verbesserten Automobilkonstruktionen, neuer Medizintechnik, neuen Medikamenten, Techniken der Energie-Einsparung u.dergl.

Diese Entwicklung ist nicht einfach nur dem Treiben einer manipulierenden Elite (in Wirtschaft, Politik, Medien) zu verdanken. Dieses Treiben existiert zwar, hat jedoch seine tiefere Ursache in dem Geschehen, das als „Wachstumsfetischismus“ kritisch bezeichnet wird. Demzufolge  gibt es eine sich ständig selbstverstärkende Dynamik, überall neu zu investieren, neue Produktionstechnologien zu etablieren, neue Produkte zu produzieren. Für das Fieber, immer wieder neuartige Produkte produzieren zu müssen, ist die Weibermode ein gutes Beispiel.

Der Haupt-Antrieb auf der Produzentenseite für diese Wachstumsdynamik ist der Wunsch der investierenden Protagonisten an der Teilhabe am Superreichtum  der Überreichen. Zumal durch das produktive Wachstum immer mehr Reichtum erzeugt wird, der aber lediglich einer kleinen Gesellschaftsschicht zugute kommt. Wer Glück hat, kriegt auch als moderner Mittelschichtler noch einen ordentlichen Happ vom Reichtum ab. – Aber tatsächlich, und das ist der Hauptantrieb auf der Konsumentenseite,  sind viele der modernen technischen Errungenschaften bzw. Industrieerzeugnisse, wenn man sie einmal kennengelernt hat, quasi unverzichtbar geworden! Zum Beispiel: Welcher Herzkranke will schon auf moderne Medikamente (etwa “Ramipril”) und moderne Bypass-Operationsmöglichkeiten freiwillig Verzicht leisten? Welcher moderne Haushalt kommt heute noch ohne Spülmaschine aus? Wer will auf die Vorteile eines Handys freiwillig verzichten? Welcher moderne Weintrinker will freiwillig auf gute und preisgünstige Weine aus Neuseeland, Kalifornien, Südafrika, Chile, Australien verzichten; welche Hausfrau auf Shrimps, Lachs; Tomaten, Gurken, Salat, Pilze im Winter,  und exotische Zutaten zum Essen – beides Effekte der modernen Tranportmöglichkeiten mit Containerschiffen und riesigen Frachtflugzeugen?

Man kann dieses Wachstum sehr deutlich beobachten, wenn man die baulichen Veränderungen allerorten betrachtet. Fast jedes etwas größere Kaff in Deutschland hat mittlerweile einen ‚Gewerbepark‘ und/oder ein großes ‚Einkaufsparadies‘ auf ehemals grünen Wiesen. Ähnlich geht es am früher beschaulichen Mittelmeer zu, wenn man die vielen neu entstandenen Hochburgen des Tourismus („Industrie ohne Schornstein“) betrachtet. Hinzu kommt ein immer weiter forcierter Straßen- und Autobahnbau.

 

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(Einkaufszentrum Dutenhofen zwischen Wetzlar und Gießen)

 

Es ist also mit Fug & Recht anzunehmen, daß dieser Wachstumsfetischismus aufgrund der vielfältigen zugeordneten Interessenlagen ein Selbstläufer ist, der durch nichts (es sei denn durch Katastrophen biblischen Ausmaßes) ernsthaft gestoppt werden kann. Logischerweise wächst aufgrund der anwachsenden Produktivität (vor allem durch immer mehr und immer effektiveren Einsatz von Computertechnologie) die Produktion exponentiell an, was sich übrigens auch in der weltweiten Vermehrung der Bevölkerung zeigt, hervorgerufen durch moderne Medizintechnik, erhöhte Nahrungsmittel-, Kleider- Baustoff-Produktion, usw.

Wenn diese Analyse stimmen sollte, so bleibt für ‚Utopie‘ im Sinne der ‚Neuen Linken‘ (seit 1967) im Rahmen dieser hier skizzierten Gesellschaftsentwicklung kein Raum. Bestenfalls kann man versuchen, einige linke sozialdemokratische Forderungen durchzusetzen, wie beispielsweise Mindestlohn für die untersten Schichten, Besteuerung der Superreichen, Aufsicht über Banken, Wohngeld für die Armen, Berücksichtigung der Ökologie, Eindämmung von Kinderarbeit in den Entwicklungsländern und dergl. - Oder auch einige klassische liberale Forderungen, vor allem nach Gewährleistung der Meinungs- und Informationsfreiheit und Eindämmung der allgemeinen Regulierungswut.

 

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‚Utopie‘ im Sinne von Überlegungen, wie eine bessere, humanere Gesellschaft aussehen könnte, ist folglich nur denkbar bzgl. einer eher statischen Gesellschaft, bei der es keinen ‚Wachstumsfetischismus‘ mehr gibt. Ein Beleg dafür ist ein Interview in derstandard.at mit einer Ökonomin, Angelika Zahrnt, vom 01.11.12, die für eine „neue Form des Wirtschaftens“ plädiert. Sie sagt ganz deutlich: „Der Wachstumsfetischismus ist krank und macht krank.“

STANDARD: Ihre Idee vom neuen Wirtschaften läuft auf Stagnation auf hohem Niveau hinaus?

Zahrnt: Wenn wir das jetzige Niveau halten könnten, wäre das sehr positiv für uns in den Industrieländern. Die Vorstellung, dass wir immer mehr draufsatteln müssen in Europa, ist für mich unverständlich. Viele Untersuchungen von Soziologen und Psychologen zeigen, dass Wachstum über ein bestimmtes materielles Niveau hinaus nicht glücklicher macht.

Zum Schluß des Interviews heißt es bzgl. der Person Angelika Zahrnt:

Angelika Zahrnt (68) ist Ehrenvorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Die in Pommern Geborene hat Volkswirtschaft in Heidelberg, Wien und Innsbruck studiert, Bücher publiziert und diverse Preise entgegengenommen. Zahrnt ist verheiratet und hat zwei Kinder.