Den gleichen Titel gibt es schon einmal 2005
Sexualreligion
Ich denke, viele können mit diesem Begriff nix anfangen, da für sie ‚Religion‘ im eigentlichen Sinne jedenfalls was mit Kirche, Tempel, Bim-Bam, Priestern, Mönchen, Klöster, Himmel, Göttern, Leben nach dem Tode, gewisse Riten, Gebete, Zeremonien und Feste, die zu den vorgenannten Dingen gehören, zu tun hat. Oft gehört auch noch sexuelle Enthaltsamkeit zum innersten Kern von Religionen (extrem bei den Skopzen in Russland).
Es gehört schon eine gewisse Schulung in ‚Operationalismus‘ und wissenschaftlicher Verallgemeinerungstechnik dazu, den Begriff ‚Sexualreligion‘ – und zwar als vollgültige Religion(!) - zu verwenden. Außerdem gehört ein gehöriger Schuss soziologischen Verständnisses zur Akzeptanz des Begriffes.
Der Soziologe Emile Durkheim hat 1912 eine Schrift veröffentlicht: „Die Grundformen des religiösen Lebens“ (darin das Schlusskapitel, auf Deutsch veröffentlicht in: F. Fürstenberg (Hrg.): Religionssoziologie, S. 35-56. 1964 Luchterhand Verlag, Neuwied und Berlin. 2.Auflage 1970). Angelehnt an Durkheim-Zitaten werde ich meine Theorie der Sexualreligion darlegen. Die Seitenangaben beziehen sich auf die Luchterhand-Ausgabe.
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Zunächst der Grundtatbestand des Glaubens:
Der Gläubige
<ist gleichsam emporgehoben über das menschliche Elend, weil er über sein Mensch-Sein emporgehoben wird; er glaubt sich vom Übel errettet, unter welcher Form er auch übrigens auch immer das Übel begreifen mag. Der erste Punkt jeden Glaubens ist der Glaube an das Heil durch den Glauben.> (S.36)
Ich denke, jemand, der/die der ‚romantischen Liebe‘ huldigt, wird diese Sätze ohne weiteres unterschreiben können.
Bei dem Musikstück „Ravelab feat Purwien – Send Me An Angel“ gibt es bei YouTube ein Bild mit einer jungen schlanken Frau in Unterwäsche in Wolken schwebend mit Engelsflügeln. Auch bei anderen Interpretationen dieses Stückes der Scorpions sieht man ähnliche ‚Engel‘ bei den YouTube-Videos.
Und hier ist die Erlösungsbotschaft:
<Hear this voice from deep inside It's the call of your heart Close your eyes and you will find The passage out of the dark
Here I am Will you send me an angel Here I am In the land of the morning star>
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Kulthandlungen
<Tatsächlich weiß jeder, der wirklich eine Religion praktiziert, daß es der Kult ist, der die Eindrücke der Freude, des inneren Friedens, der Heiterkeit, der Begeisterung hervorruft, für den Gläubigen erprobte Beweise seines Glaubens.> (S. 36)
Für die Sexualreligion ist diesbezüglich nichts näherliegender als an die diversen kultischen Sexualpraktiken zu denken: z.B. Lecken, 69 und natürlich den normalen GV - vor allem die Missionars-Stellung: mal er oben, mal sie unten. Oder zur Abwechslung alle Kamasutra-Stellungen. Allerdings nicht einfach so, sondern unter dem Aspekt, dass hier was Weihevolles geschieht.
Wenn man das Glück hat, diese Praktiken bei einem idealen ‚Partner‘ (also einem Angel, gemäß Scorpions) zu erleben, so ergeben sich für den Sexualgläubigen in der Tat die obigen Eindrücke, die Durkheim erwähnt.
Wichtig sind allerdings auch noch die Onanien mit ihren diversen Praktizierungs-Phantasien. Auch wenn sie nicht unbedingt für jeden immer Heiterkeit und Frieden hervorrufen – aufgrund des Versagens in der Realität, das sie ja implizit ausdrücken.
Der Kult
<ist eine Sammlung von Mitteln, durch die dieser sich begründet und periodisch erneuert. Ob der Kult aus materiellen Handlungen oder aus geistigen Vorgängen besteht, stets ist er wirksam.> (S. 36)
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Und nun kommt Durkheim zu seiner entscheidenden soziologischen Erkenntnis:
< (...) doch die objektive, universale und ewige Ursache dieser Empfindungen sui generis [dieser einzigartigen Empfindungen], aus der die religiöse Erfahrung besteht, ist die Gesellschaft. (...) Sie ist es, die ihn [den Gläubigen] über sich selbst erhebt: Sie selber ist es, die ihn [den Gläubigen und den Kult] produziert.> (S. 37)
Whow! Da musste erstemal drauf komme!
Und zwar spielt die Religion die entscheidende gesellschaftliche Rolle zur Herstellung von Gemeinsamkeit. Man kann auch umgekehrt sagen: was eine entscheidende gesellschaftlich verbindende Rolle darstellt, das ist per Definition Religion.
<Die Gesellschaft kann ihren Einfluß nur spürbar werden lassen, wenn sie Tat ist, und sie ist nur dann Tat, wenn die Individuen, die sie bilden, miteinander verbunden sind und gemeinsam handeln. Durch die gemeinsame Tat wird sie sich ihrer selbst bewußt, setzt sie sich selber; vor allem ist sie aktive Zusammenarbeit.> (S.38)
Man denke bei der Sexualreligion an Beauty Contests, Modeschauen, an diverse Hollywood-Filme, an die Reklame. Ab den 50er Jahren kommt es zu ersten Diskotheken (bei den Army-Angehörigen in Gießen, sind es ‚Glastanzdielen‘). Das weitet sich dann durch die von England ausgehende Musikrevolution (Beatles, Stones etc.) seit den 60er Jahren immer mehr aus, bis dann Riesen-Diskotheken entstehen und in der Folge auch noch Mega-Diskotheken. Immer geht es hierbei wesentlich um Sexualität. Gutes Symbol dafür sind die ‚Tanz-Käfige‘ oder ‚Go-Go-Käfige‘ in großen Diskotheken. Des Weiteren gibt es mehr oder minder gewaltige Musikfestivals – die ebenfalls nicht nur für keusche Mädels oder Mönche gedacht sind – man denke an die BH’s die auf die Konzert-Bühne der ‚Stones‘ geworfen wurden. – Bei all diesen Shows und Begegnungen wird sich die moderne kapitalistische Gesellschaft ihrer selbst bewusst, setzt sie sich selber, zeigt ihr eigentliches Ziel, auf das alle dynamischen Leute hinstreben, wenn sie Erfolg haben wollen – Sexualität. Bei vielen, vielleicht sogar den Meisten, reicht dieser sexuelle Impetus jedoch nur bis zum groben Ficky-Ficky-Porno, es fehlt die lyrische romantische Dimension, wie man sie von vielerlei Musik, hauptsächlich der 60er bis 80er Jahre, her kennt (wie sie z.B. das obige Stück von den Scorpions, zusätzlich mit den Illustrationen von ShivaCosima, ausdrückt). – Aber auch grober Porno gehört zur Sexualreligion, hier verständigt die Gesellschaft sich ebenfalls über sich selber, stellt sie sich selber dar in einem ihrer wesentlichen Aspekte: nämlich der trotz aller Zivilisiertheit einer Gesellschaft nach wie vor vorhandenen Primitivität.
<Weit davon entfernt, die wirkliche Gesellschaft zu ignorieren und von ihr zu abstrahieren, ist die Religion ihr Bild; sie reflektiert alle ihre Aspekte, selbst die vulgärsten und abstoßendsten.> (S. 41)
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Religiöse Technik als eine Art mystischer Mechanik
<Um eine Sache zu weihen, setzt man sie in Verbindung mit einer religiösen Energiequelle, so wie man heute einen Körper, um ihn zu erhitzen oder zu elektrisieren, mit einer Wärme- oder Elektrizitätsquelle verbindet; die hier wie dort angewandten Methoden sind wesentlich nicht voneinander unterschieden. So verstanden, scheint die religiöse Technik eine Art mystischer Mechanik zu sein. Diese materiellen Veranstaltungen aber sind nur die äußere Verpackung, unter der geistige Vorgänge sich verbergen. (...) Man sagt zuweilen, die niedrigeren Religionen seien materialistisch. Der Ausdruck ist ungenau. Alle Religionen, selbst die primitivsten, sind in bestimmter Hinsicht spiritualistisch: Denn die Mächte, die sie ins Spiel bringen, sind vor allem geistige; (...)> (S. 39)
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Rolle der Idealisierung
< (...) Diese systematische Idealisierung ist eine wesentliche Charakteristik der Religionen. (...) Einzig der Mensch hat die Fähigkeit, das Ideale zu ersinnen und es dem Realen hinzuzufügen.> (S. 42)
Beispielsweise eine ehemals sexuell begehrte schöne junge Frau, die alt und hässlich geworden ist, unterliegt nicht mehr den offiziellen gesellschaftlichen Idealisierungen von Schönheit & Attraktivität. Sie fällt raus aus der Weihe der Sexualreligion, sie ist diesbezüglich uninteressant geworden. Daran kann man bzgl. der Sexualreligion erkennen, was Durkheim meint, wenn er sagt:
<Denn die Erklärung für das Heilige liegt darin, daß es dem Realen übergestülpt wurde.> (S. 42)
<Die Lebensenergien [werden] überreizt, die Leidenschaften lebhafter, die Gefühle stärker.> (S.42). <Denn ein Glaube ist vor allem Wärme, Leben, Begeisterung, Übersteigerung jeder geistigen Tätigkeit, Erhebung des Individuums über sich selbst.> (S.46)
< (…) verleiht er [der Mensch] den Dingen, mit denen er auf das unmittelbarste in Beziehung tritt, Eigenschaften, die sie nicht haben, außergewöhnliche Macht, Tugenden, die die Gegenstände der gewöhnlichen Erfahrung nicht besitzen.> (S.42/43)
Ein von romantischer Sexualleidenschaft der ‚Liebe‘ entbrannter Mann, wird seiner Angebeteten nicht nur außergewöhnliche Schönheit zuerkennen, sondern auch ein hohes moralisches Potential. Weshalb ‚Liebe‘ bekanntlich blind macht.
Das Analoge gilt auch umgekehrt. So manche Europäerin, die sich auf einen gläubigen Moslem eingelassen hat, macht später Erfahrungen, die ihren ursprünglich idealen Vorstellungen Hohn sprechen. – Auch lässt sich so erklären, dass Frauen, die von (‚attraktiven‘) Romeo-Agenten angebaggert werden, zu den skurrilsten Verratsgeschichten fähig sind. Vermutlich hat ihr idealisierter Lover ihr im Rahmen des gekonnten Beischlafs, inkl. Liebes-Versicherungen und anderem Larifari, die Ansicht nahe gebracht, sie beginge mit ihrem Verrat eine moralisch hochstehende Handlung – ungefähr so moralisch hochstehend, wie er selber zu sein scheint (zusammen mit seiner Attraktivität). (Vgl. Stasi-Romeos)
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Durkheim hält die Bildung von Idealen für einen notwendigen Vorgang der Gesellschaftsbildung:
<Eine Gesellschaft kann sich weder schaffen, noch erneuern, ohne gleichzeitig ein Ideal zu bilden.> (S.43)
Insofern also die Sexualreligion eine Idealbildung darstellt, hat sie erheblich mit dazu beigetragen, die feudale Gesellschaft in Richtung auf die bürgerliche Gesellschaft hin zu entwickeln. Denn das der europäischen Feudalgesellschaft wesenhaft zugehörige Christentum wurde im Rahmen der ‚Aufklärung‘ in vielerlei Hinsicht seiner idealen Autorität entweiht. Speziell die offiziellen christlichen Sexualvorstellungen wurden mehr und mehr unterlaufen und schließlich ganz abgelehnt. Und dazu diente vor allem die Sexualreligion, die im 18. Jhdt., also während der Aufklärung, zur ersten Blüte kam (vgl. Goethe: Werther).
<Die ideale Gesellschaft ist nicht außerhalb der realen, sie ist ihr Teil.> (S.43)
Daraus ergibt sich eine naheliegende Frage: Ist eine Gesellschaftsentwicklung denkbar, welche die Sexualreligion abstreift und sich in dem Maße eine neue Idealisierung erschafft? Und dann: welche?
Fortsetzung hier
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