11.08.19
Weil der Ausdruck ‚Idealismus‘ in verschiedenen Bedeutungen verwendet wird, möchte ich eine Definition vorausschicken, wie ich den Begriff in diesem Essay verwenden werde:
Idealismus – Definition:
der Glaube an Ideale, das Streben nach Verwirklichung dieser Ideale und die Neigung, die Wirklichkeit nicht zu sehen, wie sie ist, sondern wie sie sein sollte.
D.h. der Glauben an ein Ideal kann die fatale Konsequenz haben, dass die Realität ignoriert wird, dass also Kritik als Angriff bzw. als Anschlag auf was Edles erlebt wird und somit unterbunden werden muss.
Zunächst zwei Beispiele:
1. Das Ideal der Globalen Gemeinschaft: Errichtung einer demokratischen globalen Ordnung unter Garantie der Grundrechte und Sozialleistungen für alle Individuen und Völker.
Mit dieser idealen Einstellung müssen unbedingt alle kritischen Einwendungen bzgl. massenhafter Einwanderung von Moslems und/oder Afrikanern nach Europa ignoriert, unterdrückt, oder gar übelst diskreditiert werden.
2. Das Ideal der zivilen Atomkraft-Nutzung in der Sowjetunion.
<...every accident that did occur at a nuclear station in the Soviet Union continued to be regarded as a state of secret, kept even from the specialists at the installations were they occured.> (Adam Higginbotham, Midnight in Chernobyl. The Untold Story of the World‘s Greatest Nuclear Disaster, Bantam Press 2019, S. 69)
Im Januar 1986 (d.h. ca. 2-3 Monate vor dem Desaster von Tschernobyl) hatte die Sowjetische Botschaft in den USA ein Hochglanz-Magazin ‚Soviet Life‘ herausgegeben <featured the Chernobyl nuclear power plant as the centerpiece of a ten-page report on the wonders of nuclear energy. (…) Legasov coauthored another essay in which he boasted, „In the thirty years since the first Soviet nuclear power plant opened, there has not been a single instance when plant personnel or nearby residents have been seriously threatened; not a single disruption in normal operation occurred that would have resulted in the contamination of the air, water, or soil.“ In a separate interview, Vitali Sklyarov, the Ukrainian minister of energy and electrification, assured readers that the odds of a meltdown at the plant were „one in 10,000 years.“> (Midnight in Chernobyl, S. 74)
Der in dem Zitat erwähnte Legasov wurde 1983, <the first Deputy Director for scientific work of the Kurchatov Institute of Atomic Energy.> Er war maßgeblich an der Untersuchung und Aufklärung der Katastrophe von Tschernobyl beteiligt – und hatte sich inzwischen realitätstechnisch vom Saulus zum Paulus gewandelt. 2 Jahre nach Tschernobyl hat er sich in seiner Wohnung aufgehängt. Offenkundig war er stark desillusioniert über den leichtsinnigen Umgang mit der zivilen Kernkraft. Siehe Wikipedia.
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Das Phänomen des Idealismus ist primär ein psychologisches. Denn der ungetrübte Glaube an ein Ideal birgt das Potenzial von Enthusiasmus in sich. Wogegen ein durch die Realität getrübtes Ideal lediglich Genugtuung und normalen Arbeitseifer erzeugen kann, sofern sich die Realität überhaupt in Richtung des Ideals bewegen lässt.
Doch ist der reine Idealismus eine gefährliche Angelegenheit. Er ist die Grundlage für irreale Vorstellungen, die oft nicht weit entfernt sind von Wahnideen. Insofern entpuppt sich der reine Idealismus sogar als regelrechte Zerstörungskraft. Man hat es doch so gut gemeint, und heraus kommt nix als Scheiße!
Es geht also nicht darum, Ideale als solche zu diskreditieren, sondern darum, sie mit der Realität kritisch (und wahrhaftig) zu vermitteln. Erst dann hat man die Chance, dass bei aller Gutgemeintheit nicht das Gegenteil von Gut herauskommt, sondern tatsächlich was Gutes. - Außerdem wäre es natürlich durchaus sinnvoll, die Ideale selber kritisch unter die Lupe zu nehmen: welche Probleme verbergen sich unter der glänzenden Oberfläche, die bislang gar nicht berücksichtigt wurden bei meinen Überlegungen? Beispielsweise bei der Atomenergie: Wohin mit dem vielen radioaktiven Atom-Müll? Oder bei der Idee der idealen globalen Gemeinschaft: Was ist mit unzivilisierten tribalen Völkern? Inwiefern können diese was mit Demokratie oder den Grundrechten anfangen – also z.B. mit Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung?
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