25.09.06
Professor Heisenberg 1969 zur Jugend- und Studentenbewegung
Werner Heisenberg ist im besten Sinne ein in der Tradition der Universitätsidee von Wilhelm von Humboldt stehender philosophischer Geist, vor dem man aufgrund seiner überragenden geistigen Leistungen große Hochachtung empfinden muß. Er ist einer der maßgeblichen Pioniere der Quantentheorie gewesen und hat den entscheidenden genialen Durchbruch zur strukturierenden mathematischen Ordnung dieser Theorie erzielt, als er 1925 auf Helgoland war.
Da er dadurch in der Welt des Geistes sehr berühmt wurde, hat er bei mancherlei erlauchten Gremien schmückende Vorträge gehalten. In einem Bändchen solcher Vorträge (Werner Heisenberg: Schritte über Grenzen, Piper München 19897. Ursprünglich 1971) gibt es zwei Reden, eine von 1969, die andere von 1972, bei denen er auch auf das Problem der Jugend- und Studentenbewegung eingeht. Besonders interessant sind seine Auslassungen von 1969.
Der Vortrag von 1969 wurde gehalten im Rahmen eines Symposions der Karajan-Stiftung in Salzburg. Der Titel lautete: „Die Tendenz zur Abstraktion in moderner Kunst und Wissenschaft“ (S.227-238). Die entscheidende Grundidee dieser Rede war, daß man in der Physik 25 Jahre Chaos, Widersprüchlichkeit und Verunsicherung durchleben mußte (also von Max Planck 1900 bis 1925 Heisenberg), um endlich wieder in den Hafen der mathematischen Harmonie und Sicherheit einzukehren. Dies setzt er in Analogie zur inhaltsfernen ‚modernen Kunst’ (atonale Musik, nichtgegenständliche Malerei, S. 232), die er demnach als chaotisches und verunsicherndes, verworrenes Übergangsphänomen bzw. „Vorstadium“ (S. 238) ansieht, bis sie wieder in einen Ort höherer Ordnung der inhaltlichen Gestaltung des „Lebensgrundes“ (S. 233) unserer Epoche einkehrt:
Wirklich abstrakte Kunst hat es früher gegeben – das war etwa die arabische Ornamentik im frühen Mittelalter oder die Kunst der Fuge bei Bach -, und es wird sie wohl wieder geben. Wichtige Teile der modernen Kunst wären aber eher eine verwaschene, unbestimmte Kunst zu nennen oder, wie sie sich selbst manchmal bezeichnet, eine Kunst der Verneinung, der Auflösung ... (S. 235f.)
Diese negativistische Rolle der modernen Kunst schanzt er nun ganz nebenher auch „unserer Jugend“ (S.234) zu.
Er unterscheidet zwar – sozusagen formell gerechtigkeitshalber – zwei Fälle, wovon er aber eigentlich nur den negativen Fall behandelt. Der positive Fall ist der des Strebens nach Erweiterung, nach Expansion, der Abkehr von der Tradition und Hinwendung auf die Welt als Ganzes bis hin zum Universum. Warum dies künstlerisch nur dargestellt werden kann „wenn man bereit ist, in recht lebensferne Bereiche einzutreten“ (S.234) bleibt leider Heisenbergs Geheimnis. Vielleicht denkt er an Science-fiction-Romane.
Nun dagegen der negative Fall:
Aber neben dieser Tendenz zur Erweiterung des Lebensraumes für den Einzelnen wird noch ein anderer, mehr negativer Zug im Lebensgefühl der jungen Generation sichtbar, der von Psychologen ausführlich beschrieben worden ist [bedauernswerterweise keine Literaturangabe oder Namensnennung; Verf. M.A.]. Man kann ihn ein Streben von der Gestalt weg, ein Streben nach „Entstaltung“ nennen. Gut erkennbar wird dieser Zug z.B. in der Jazzmusik und ihren Fortsetzungen, die ja bei einem Teil der Jugend sehr beliebt ist, manchmal beinahe als eine Art von Weltanschauung empfunden wird. Hier ist die Verwischung der Konturen charakteristisch, sowohl der harmonischen als auch der rhythmischen; der Ton soll nicht mehr rein, er soll verschmiert sein, der Rhythmus wird geteilt in einen Grund- und einen Melodierhythmus und damit aus dem in der früheren Musik üblichen Gleichgewicht gebracht. Im Gesang, der statt Liedertexte schließlich nur noch zusammenhanglose Silben oder klangmachende Laute ausstößt, wird auch die Form der Sprache noch aufgelöst. Es wird dabei keine neue Form gesetzt. Diese Züge der Jazzmusik, so sagen die Psychologen, charakterisieren die Stimmungslage der Jugend. Alle Gefühle zeigen eine auffällige Wischigkeit, Verschwommenheit und Ungenauigkeit; und diese Unschärfe beruht auf dem Verlust an personalen und sachbezogenen Kontakten, d.h. auf der Entfremdung von der Wirklichkeit, und fördert und verstärkt sie zugleich. (...) Ich möchte vermuten, daß diese Seite unseres heutigen Lebensgefühls, oder sagen wir richtiger des Lebensgefühls unserer Jugend, ein zentrales Problem der modernen Kunst ist. Es scheint zunächst unabweisbar, daß diese Tendenz zur Entstaltung die Negation aller Kunst sein muß, daß von ihr jeder Weg zur Kunst radikal verbaut ist; denn Kunst ist Gestaltung. (S. 234 f.)
Das sind meiner Ansicht nach sehr weise Sätze eines Menschen, der selbst zeitlebens sich der klassischen Musik aktiv verpflichtet fühlte, denen ich persönlich im Prinzip nur zustimmen kann.
(Anmerkung: Die Sache mit den Tönen und dem Rhythmus verstehe ich allerdings nicht, da ich nicht selber Musiker bin. Ich stehe ihr aber dennoch skeptisch gegenüber, da sie die Freiheit der Kunst – gerade auch wenn sie gut ist – tangiert. Es gibt schließlich nach meinem Ermessen tatsächlich ca. 0,2% gute, melodiöse Jazzmusik – und dann ist sie wirklich gut! - Beispielsweise Skokiaan von Louis Armstrong).
Doch leider – ach – hat Heisenberg nur die negative Seite der Sache genauer beleuchtet. Er hätte gerechtigkeitshalber auch die positive Seite der Sache beleuchten müssen, die keineswegs sich in lebensferne Bereiche verschanzt hatte, sondern ganz im Gegenteil sich den naheliegendsten existenziellen Lebensproblemen zuwandte (z.B. in hunderten von Variationen Themen des Glücks, des Unglücks, der Lebensfreude, der Melancholie, der Romantik, der Leidenschaft, der Eifersucht, der Prostitution, der Selbstvergewisserung, der Drogen, der Freude, des Leids, dem Haß auf entfremdete Arbeit, der Politik, des Krieges, der Liebe, der Diskriminierung, der Erziehung, des Alters, des Todes, des Irrsinns, der ernstgemeinten Religion, des ernstgemeinten Lebens, der Meditation, der Natur, der Selbstbesinnung, der Geschichte usw.). Man denke in der Musik z.B. an die Beatles. Die hätte Heisenberg 1969 doch wohl schon kennen müssen – sie sind damals gerade ausgeklungen nach über 700 guten (und teilweise wirklich existenziellen) und weltberühmten Songs. Es ist müßig zu fragen, ob sie lediglich nur eine der „Fortsetzungen“ der Jazz-Musik gewesen sind, ich denke es gibt vielerlei verschiedene Einflüsse bei ihnen – sie verwendeten z.B. auch klassische Stilelemente, wenn man sich an die Cello-Musik in dem Stück „Yesterday“ erinnert: “Das Cello begleitete Paul McCartneys Solostimme und gab dem Stück den Eindruck von Kammermusik” - Wikipedia). Sie gehörten wesentlich zu dem ganzen Aufbruch der 60er Jahre von Folk, Beat, Rock, Soul, Protestsongs und damit einhergehender enormer Lebenskraft von Musik-Kunst und Song-Lyrik und einer unfaßbaren Weiterentwicklung dieser Tendenzen in den 70er, 80er bis in die 90er Jahre – allerdings tatsächlich immer wieder vermischt mit der von Heisenberg meines Ermessens zu Recht behaupteten Entfremdung z.B. häufig im Hard-Rock oder der Brainkiller-Musik (Heavy Metal etc.).
Daß in der Malerei, Architektur, dem Theater die offizial-gesellschaftliche Dominanz fast alle Lebensnähe erstickte (z.B. sog. abstrakte Kunst à la Picasso, Beuys, Bauhaus, moderner Städtebau, modernes Theater), drückt m.E. aus, daß dies offenbar im ideologischen Interesse des herrschenden Systems liegt und nicht einfach (undifferenziert) das Interesse der jungen Generation ausdrückt. Alternative Ansätze von Malerei, Architektur, Theater, sofern sie realistisch und/oder kritisch-humanistisch, lebensfreundlich sein wollen, werden meiner Ansicht nach weitestgehend unterdrückt – d.h. sie kommen kurioserweise einfach nicht zum Zug. (Vgl. dazu auch einen erfrischenden Artikel in der ZEIT über Wein-Kultur mit Seitenhieb auf Städtebau und Trennung von E & U).
Bleiben noch ein paar Worte zur Literatur und zum Film übrig - aber ebenfalls die Geisteswissenschaften (Philosophie, Psychologie, Soziologie usw.) wären eigentlich mit zu bedenken. Auch hier kann man die einseitige Sichtweise von Heisenberg nicht voll nachvollziehen. In den Gegenwarts-Romanen und dokumentarischen Berichten (damals) junger (heute grauhaariger) Autoren gibt es sicherlich eine Menge lebensnaher, inhaltlicher Kunst (ich verweise z.B. auf meinen früheren Freund, den Schriftsteller Peter Kurzeck, der allerdings erst seit 1978 veröffentlichte, aber 1969 zu den „jungen Menschen“ Heisenbergs gehörte). Erst recht beim Film – man denke beispielsweise an Rainer Werner Faßbinder, Hark Bohm, Werner Herzog, Volker Schlöndorff, Peter Schamoni und viele andere. Auch wenn sich in der Tat genügend chaotische, experimentelle, auch entfremdete Seiten, in explizit künstlerischer Literatur und Film finden (beispielsweise auch bei Kurzeck oder Faßbinder).
– Wie jeder weiß, ist das Überwiegende an Film und Fernsehen ziemlich bescheiden. (Daraus könnten selbstverständlich die Psychologen wunderbar die „Stimmungslage“ der Bevölkerungsmehrheit darlegen. – Tun sie aber leider nicht!). Deshalb kann man dankbar sein für die enormen positiven Leistungen insbesondere der realistischen und kritischen deutschen Filmkunst seit Anfang der 70er Jahre, die selbstverständlich durch die Studentenbewegung erst richtig in Schwung kam. Bei der Lyrik übrigens finden sich ähnliche Verhältnisse wie bei Malerei, Architektur und Theater. D.h. oft genug werden einem ziemlich entfremdete Texte als „die“ moderne Lyrik angeboten. Aber wer interessiert sich in einer immer mehr gefühlsverarmenden Umwelt überhaupt noch für Lyrik, die zum Herzen geht, die wirklich irgendeine unserer existenziellen Fragen gekonnt anspricht? [Anmerkung 2012: Diese letztere Ansicht ist offenkundig falsch, da sich die lebendige Lyrik mittlerweile auf die ‘Lyrics’ in der Musik verlagert hat. Und diese ist in der englischen und amerikanischen modernen Pop & Rock-Musik oft sehr ausdrucksvoll zusammen mit der zugehörigen Melodie. (Siehe dazu beispielsweise meine Lyrik-Website). Diesen wichtigen Sachverhalt habe ich 2006, als ich diesen Heisenberg-Artikel schrieb, nicht bedacht!]
Im Gefolge des forcierten ‚Neoliberalismus’ seit den 90er Jahren geht es offenbar auch mit der Musik wieder bergab. Was einem z.B. die Love-Parade an narzißtischer „Entstaltung“ bietet, stimmt teilweise mit den kritischen Ideen von Heisenberg (zur Jazz-Musik) überein. Man denke nur an die obige Behauptung wonach solche Musik auf der „Entfremdung von der Wirklichkeit“ beruhe. Rave-Musik führt die Menschen in der Tat nicht an existenzielle Realität heran, sondern spinnt sie ein in einen betäubenden narzißtischen Kokon, der ihnen vorgaukelt, daß existenzielle Fragestellungen - und damit verbundene Fragen an die Gesellschaft - sinnlos, wertlos, falsch und reine Zeitverschwendung sind. Es gilt einfach nur: sich in einer Riesenmasse als Einzelne(r) rhythmisch und sexualistisch zu bewegen, um der Sexualreligion zu huldigen. Die Musik ist so anödend wie die Beziehungslosigkeit der Körper-Bewegungen der isolierten Einzelnen. Bezeichnend für diese Neo-Primitivität: besondere Sexual-Attraktive tanzen bei Rave-Musik in riesigen Diskotheken in Käfigen sexuell aufreizend zur Schau für den Rest - das Ganze freilich ohne wirkliche Befreiung & Befriedigung. Mehr als dieses oft anödende Einzelgestampfe in Massen - angefeuert von DJ’s - ist an Glück für die Meisten vom Leben nicht zu erwarten - und dies in der Regel bestenfalls nur für wenige Jahre.
Dies aber als ein Problem „unserer Jugend“ anzusehen und nicht zu erkennen, daß es sich um ein allgemeineres gesellschaftliches Problem handelt, wenn der produktive Geist humanistisch und freiheitlich orientierter Musik, der sich seit den 50er-60er-70er Jahren entwickelte [vgl. dazu auch meine Musikfavorites], wieder niedergerungen wird, bedeutet ignorant gegenüber kritischem (soziologischem) Denken zu sein.
Solche Ignoranz kann man meiner Ansicht nach Heisenberg leider vorwerfen: Indem er sich 1969 mit einer weitgehend einseitigen negativistischen Sichtweise bezüglich der damaligen Jugend- und Studentenbewegung mit den konservativen Spießer-Mächten gegen die kreativen kulturellen Kräfte, die sich durchzusetzen versuchten, verbündete, hat er sein ureigenstes humanistisches Anliegen verraten – freilich ohne es zu merken. Es war ja auch – wissenssoziologisch betrachtet - naheliegender so, wenn er sich als offiziöser Festvortragsredner bei den entsprechenden Leuten nicht unmöglich machen wollte.
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Anmerkung 15. April 2010: In einer kurzen dpa-Meldung aus Rom heißt es unter der Überschrift “Vatikan schließt Frieden mit Beatles”:
<Trotz ihres “hemmungslosen Bohemien-Lebens”, in dem Drogen zum Alltag gehörten, habe die Popgruppe die musikalische Szene für immer verändert, heißt es in einem Bericht der Vatikanzeitung “Osservatore Romano”: “40 Jahre nach der turbulenten Auflösung der Beatles bleiben uns ihre Melodien, die die Musik für immer verändert haben, wie kostbare Preziosen.”>
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