Raritäten & das Glück

 

13.06.05


 

Raritäten & das Glück


 

Als ich so 12 war begann ich Briefmarken zu sammeln. Es war eine jahrelange große Leidenschaft, bei der ich viel nebenher gelernt habe – rein aus Lust & Freude - z.B. Sortieren, Ordnen, Katalogisieren, preislich Bewerten, Historie und vieles andere mehr. Die ursprüngliche Leidenschaft speiste sich aus der erstaunlichen Tatsache, daß ich ja auch zu diesen bewundernswerten Leuten gehören konnte, die mit solchen exotischen Briefmarken aus allen Herren Ländern und Zeiten herumhantieren konnten, als sei es eine Selbstverständlichkeit.


 

Nun habe ich im Nachhinein u.a. eine spezielle Sache im Kopf, die ich aus dieser Angelegenheit in Erinnerung habe. Es gab ja unterschiedlich wertvolle Briefmarken. Das richtete sich in der Regel nach der Rarität, ob eine Briefmarke teuer war oder nicht. Je seltener desto teurer war die Faustregel. Eine Briefmarke konnte noch so schön oder groß sein, dreiecksförmig oder sonstwie kunstvoll oder bizarr, es nutzte nix, wenn sie keine Rarität war. Andererseits konnten auch völlig unscheinbare Marken zu unglaublichen Höhen emporklettern. Bestes Beispiel die 50-Pfennig-Heuß-Marke ungestempelt (von 1954). Das war zu der Zeit, als die Heuß-Marken en vogue waren. Die 50iger war damals die gängigste Brief-Marke im wahrsten Sinne des Wortes schlechthin. Da sie so gängig war, versäumten die Sammler und vor allem die Händler, sich mit genügend postfrischen Werten einzudecken. Deshalb wurde sie zur Rarität und sie erreichte schwindelerregende Höhen, was weiß ich, 600 DM in den 70er Jahren. Sie war ja wichtig zur Komplettierung der Serie. Briefmarkensammler leiden unter Komplettierungszwang. Meine persönliche Liebe galt den Briefmarken aus dem französisch besetzten Saargebiet. Sie waren erstens wunderschön (französischer Einfluß der Markengestaltung) und zweitens waren sie per se selten, weil es sich ja nur um ein kleines deutsches Gebiet handelt und die deutschen Sammler wollten ja ihre Sammlungen auch mit dem Saargebiet komplettieren. In dieser Reihe von edlen Marken sprang mich immerzu eine große bräunlich rote Postkutschenmarke an mit dem Titel „Tag der Briefmarke 1950“. Sie war sehr teuer: erst 35 DM, dann 40 DM, dann 45 DM und für 50 DM endlich faßte ich mir ein Herz (und heimlich in die Ladenkasse von unserem Wurstbudchen) und kaufte mir diese wunderbare Rarität, diese einmalige Schönheit. Ich wendete sie mit der Pinzette hin und her, betrachtete sie mir endlos bevor ich sie wieder behutsam ins Album unter eine Folie mit schwarzem Untergrund steckte - und war berauscht. Sie war mein Schatz! - Eigenartigerweise gab es nach 1950 jedes Jahr eine ähnliche große Marke zum Tag der Briefmarke und alle diese Marken waren sehr schön, aber keine war so wertvoll wie diese, keine wurde also mit diesen magischen Bewunderungsattributen versehen durch mich, keine wurde rein durch ihre Schönheit mein Schatz, solange sie keine Rarität war. Crazy ne?


 

So, was lernen wir daraus?


 

Natürlich war dieser Vorgang der magischen Zuwendung eine unbewußte Angelegenheit. Sie vollzog sich gewissermaßen hinter meinem Rücken. Sie war einfach selbstverständlich. Der Briefmarke haftete keinerlei besondere An-Sich-Qualität an, die etliche andere Sondermarken nicht gleichermaßen hätten erfüllen können. Dennoch hatte sie ein besonderes Fluidum, das durch Kataloge, Händler und Nachfrage seine intersubjektive Realität hatte – so wie als bekanntestes dieser Phänomene die Blaue Mauritius.


 

So, und jetzt betrachte ich unter dem gleichen Aspekt die Weibergeschichte. Die Parallelität ist meines Ermessens frappant. Welche Sorte Weiber als Besonders angesehen wird, das schreit einem von allen Litfaßsäulen, Filmplakaten, Zeitschriften usw. an. Viele Weiber, die gute körperliche (bzw. auch seelische) Voraussetzungen haben, stylen sich entsprechend und schaffen es auch, diesem Ideal nachzukommen. Das Ganze hat mit Ästhetik zu tun – wenn auch in spezifisch gestylter Form. Wegen der gleichzeitigen gesellschaftlich prävalenten Vorstellung, daß das Glück der Männer in den Weibern liegt (bzw. das Glück in der sexuellen Liebe zu erlangen sei) und dann noch zusätzlich, daß es eigentlich schöne Weiber sein müßten, die das Glück verschaffen, ergibt sich somit eine enorme Nachfrage nach jenen Plakat-Weibern. Das macht sie besonders rar, da ja die meisten Weiber nicht diesem Plakat-Ideal entsprechen. Wer sich als Mann also so ein Plakat-Weib ergattert, hat die beste Voraussetzung dafür, diese Frau analog magisch zu verehren wie ich meine saarländische Briefmarke von 1950: sie ist dann sein Schatz. Und nichts spricht dafür, daß sie eine besondere An-sich-Qualität hat. Es sei denn eine besondere narzißtische Erhebung durch die vielen Interessenten, was sie vielleicht tatsächlich noch besonders schön macht – neben ihren ästhetischen Plakat-Attributen.


 

Natürlich ist dieser Vorgang der magischen Zuwendung eine unbewußte Angelegenheit. Sie vollzieht sich gewissermaßen hinter jedermanns Rücken. Sie ist einfach selbstverständlich.


 

Die Schlußfolgerung ist ebenso klar wie die Analyse. Wenn mich so ein Hingucker mit seinem plakativen Styling auf der Straße, im Supermarkt oder sonstwo überfällt, und alles giert nach verhindertem Glück bei mir, dann sehe ich jetzt: Aha, da kommt so eine Rarität. Die hat auf diese Raritätskarte gesetzt und ich springe darauf an. Und entweder will sie mich damit (seltenerweise) irgendwie psychisch einfangen (was mir narzißtisch guttut; aber daß da eh prinzipiell Scheiße rauskommt habe ich durch lange Leidensgeschichte erfahren, z.B. daß sie dann mit einem rumspielen oder irgendwo oder irgendwann noch ihre anderen Lover in petto haben, oder daß es außer dieser Rarität eigentlich langweilig ist mit ihnen) oder aber sie stiefelt überheblich vorbei (das Übliche) und ich kann da (das Übliche) irgendwie demütig-gierig-niedergeschlagen-betreten ('schüchtern') hin-und-weggucken. Nix da. Alles erledigt. Dieses Glück (ich will ja gar nicht leugnen, daß es tatsächlich Glück ist! Vgl. meine saarländische Briefmarke) führt im menschlichen Bereich prinzipiell ins Nichts, in die Leere und Ödnis oder gar Verzweiflung. Die gesellschaftlichen Glücksvorstellungen müssen sich losreisen von dieser intersubjektiven Hohlheit. Es warten ganz andere, an und für sich objektive Dinge und Beziehungen auf uns, auf die wir unsere (auch intersubjektiven aber hauptsächlich an und für sich objektiven) Glücksvorstellungen ansetzen müssen, die jetzt vergraben sind unter dem Gebirge jener rein intersubjektivistischen Raritäten-Glücks-Religion. (Vgl. dazu auch den provokativen Reim von Trini Lopez: “If you want to be happy for the rest of your life, don’t take a pretty woman for your wife” - aus dem Album  ‘Life at PJ’s’ 1963.)

(Siehe als Fortsetzung dazu das Thema Sexualreligion)


 


(Preis im Michel-Katalog von 1991/1992 in DM: postfrisch 180,- DM, gestempelt 300,-DM; “gez.” heißt “gezähnt” im Format K 13. Die Größe der Marke entspricht in etwa tatsächlich der obigen Bildgröße)

 

 

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Relevantes Zitat von Adorno:

"Ideologie überlagert nicht das gesellschaftliche Sein als ablösbare Schicht, sondern wohnt ihm inne. Sie gründet in der Abstraktion, die zum Tauschvorgang wesentlich rechnet. Ohne Absehen von den lebendigen Menschen wäre nicht zu tauschen. Das impliziert im realen Lebensprozeß bis heute notwendig gesellschaftlichen Schein. Sein Kern ist der Wert als Ding an sich, als »Natur«. Die Naturwüchsigkeit der kapitalistischen Gesellschaft ist real und zugleich jener Schein." - Aus: Negative Dialektik

 

Siehe auch “Adorno zum Thema Sexualität