Über-Ich

 

15,01,22

 

Über-Ich, Es und Ich

 

Diese drei Freud’schen Begriffe nehme ich lediglich in ihrer für mich operationalen Bedeutung. Die Hintergründe der Freud’schen Psychoanalyse spielen für mich keine Rolle. Um ehrlich zu sein, nehme ich diese Hintergründe weitgehend nicht ernst. – Mein Hauptthema hier ist ‚das Über-Ich‘.

Die drei Begriffe sind von der Erfahrung her folgendermaßen für mich plausibel: ‚Das Es‘ symbolisiert sozusagen das spontane Gefühls-Ich, das lebendige Kinder-Ich. ‚Das Ich‘ symbolisiert das rationale Ich, die Fähigkeit zur argumentativen Überlegung. Das ‚Über-Ich‘ symbolisiert die keineswegs rational begründbaren (bestenfalls ideologisch begründbaren) unmenschlichen Anteile zur Aufrechterhaltung der gegebenen Kultur, in die ein Mensch per Familie reingeboren ist: das kulturelle Ich in seinen ‘unmenschlichen’ Aspekten. (Vgl. dazu auch Eric Berne, der unterscheidet zwischen “adult ego state” und “parent ego state”). Wenn beispielsweise in einer bestimmten mohammedanischen Gesellschaft die Entfernung der Klitoris bei jungen Mädchen zur Kulturtradition gehört, so gibt es sicherlich bei kritisch denkenden Menschen rationale Einwände dagegen, jedoch das Über-Ich der ‚Kulturträger‘ in jener Gesellschaft setzt sich darüber hinweg. Oder in einer militaristischen Gesellschaft setzen sich die ‚Über-Ich-Kulturträger‘ über etwaige (rational begründbare) Pazifismusvorstellungen hinweg.

Ich gehe also nicht davon aus, daß jeder Mensch alle drei „Instanzen“ des angeblichen „psychischen Apparates“ (gemäß Freud) besitzt. Die meisten Menschen besitzen wohl ‚das Es‘ (und hauptsächlich nur dieses), die wenigsten ‚das Ich‘ (und diese wahrscheinlich außerdem auch noch einiges vom ‚Es‘), und eine mittlere Anzahl ‚das Über-Ich‘. Inwieweit die Über-Ich-Menschen noch Ich und/oder Es-Anteile besitzen, lasse ich hier offen. Die Über-Ich-Fraktion ist arrogant gegenüber dem Rest der Welt. Sie wähnt sich im Besitz aller entscheidenden Werte-Wahrheit und kann mit der rationalen Ich-Fraktion nur bedingt was anfangen, deswegen werden einzelne ihrer Angehörigen von manchen Über-Ich-Menschen des Öfteren ausgegrenzt bzw. ebenfalls unter die Kinder-Fraktion subsumiert, die man manipulieren muß und die autoritätsmäßig den Kulturträgern folgen sollen. Nur ist die rationale Ich-Fraktion nicht selten (in einzelnen Punkten) renitent und muß insofern bekämpft werden: es handelt sich quasi um ‚renitente Kinder‘ – gemäß den sozusagen ‚natürlichen‘ Vorstellungen der Über-Ich-Kulturträger-Fraktion.

Jene rationale Ich-Fraktion hat durch die ‚Aufklärung‘ (spätestens seit der Französischen Revolution 1789) einen enormen Aufschwung in der westlichen Zivilisation erfahren – was jedoch nicht heißt, daß sie wirklich dominant geworden ist. Die beiden anderen Fraktionen sind zusammengerechnet allemal stärker: außerdem koalieren sie miteinander, da die unentwickelten kindhaften Menschen sich nach ‚Autorität‘ (im Sinne von autoritären Oberhäuptern) sehnen, denn rationale geistige Autorität können sie ja naturgemäß nicht begreifen, was die quasi ständige Prävalenz sog. ‚konservativer‘ Kräfte (auch im Schafspelz der Sozialisten) in den Demokratien erklären kann.

 

Da das Über-Ich je nach unterschiedlicher Kultur unterschiedlich ist, und da es selbst in Europa (+ USA, Canada und dergl.) unterschiedliche kulturelle Vorgegebenheiten gibt, so beschränke ich mich der Einfachheit halber auf Deutschland, um zu beschreiben, was ich meine.

Das Über-Ich in Deutschland hat verschiedene Varianten. Da ist einmal (1) das militaristische Über-Ich, das vor allem die Zeit bis 1945 beherrschte. Dann (2) das allgemeine Pflicht-Über-Ich vor allem bzgl. der Welt der Arbeit und des Lernens, das auch noch heute existiert, wenn auch teilweise in abgeschwächter Form. Nicht zu vergessen (3) das Über-Ich der Umgangsformen mit beispielsweise Kleidungsnormen, Eßsitten, Hochdeutsch. Auch dieses ist mittlerweile (quantitativ zumindest aber auch qualitativ) stark abgeschwächt.

Generell kann man sagen: da das Über-Ich (nach meiner negativistischen Definition) sich nicht rational rechtfertigen läßt, braucht es logischerweise den Rückhalt durch außergewöhnliche ‚Autoritäten‘. Denn das gefühlte Übel, das hier als Normalität eingefordert ist, braucht eine höhere Weihe durch die ‚offizielle‘ Führung. Dieser Rückhalt wird in der Kindheit durch Eltern, Kirche (in der Ostzone: die Partei) und Schule geliefert, insgesamt durch den ‘Staat’ – beispielsweise beim militaristischen Über-Ich durch den ‘Kaiser’ oder ‚den Führer‘. Das heißt aber, daß von Kindheit an eine psychische Fixierung folgendermaßen aufgebaut werden muß: Man hat die angebliche ‚Autorität‘ der Eltern und der Schule (Kirche, bzw. Partei) unbedingt zu achten. Des Weiteren soll man die Anweisungen und Vorstellungen dieser ‚Autoritäten‘ unbedingt als gut und richtig ansehen. Schließlich soll man als Erwachsener die staatliche Autorität sowie die Autorität von ‘Arbeitgebern’ und dergl. unbedingt als gut und richtig ansehen. Jemand, der eine solche psychische Fixierung besitzt, ist auf dem besten Weg, ein echter, ernstzunehmender, gestandener ‚Staatsbürger‘ zu werden.

 

Wieso handelt es sich hier um ‚Übel‘?

  • Bei dem militaristischen Über-Ich sollte dies ja mittlerweile wohl klar sein: 1. und 2. Weltkrieg, Auschwitz sind deutliche Zeichen des Übels – auch wenn das den meisten militaristischen Beteiligten damals keineswegs ‚klar‘ war. (Vgl. dazu auch das überaus instruktive Buch von Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem, 1965).
  • Das Über-Ich von Pflicht und Arbeit als ‚Übel‘ zu bezeichnen, ist natürlich ein starkes Stück. Aber es geht hier nicht darum, daß jemand pünktlich und gewissenhaft seine Arbeit verrichtet, das würde ich unter ‚rationales Ich‘ (Eric Bernes ‘Erwachsenen-Ich’) subsumieren. Sondern objektiv ist es für ein solch extremes Industrieland wie Deutschland wichtig, die besten technischen Leistungen zu erbringen (vgl. dazu im einzelnen die diversen komplexen und ausgefeilten Stellenanzeigen in der anspruchsvollen Computerzeitschrift c’t). Aber subjektiv geht das auf die Dauer an die gesundheitliche Substanz, wenn nicht der direkt, dann aber wahrscheinlich der indirekt beteiligten Individuen (und ist insofern ein Übel). Außerdem fragt es sich ganz ernsthaft, ob insgesamt betrachtet (mit allem zivilisatorischen Drum & Dran), diese wahrhaft großartigen technischen Leistungen (in USA, Japan,  Deutschland, China, Korea,  usw.), der Menschheit mittlerweile auf Dauer nicht mehr schaden als helfen?
  • Das angeblich ‚gute Benehmen‘ hat sich zwar mittlerweile ansatzweise relativiert. Es spielt nicht mehr die umfassende Rolle wie beispielsweise noch in den 50er Jahren. Es spielt aber immer noch eine große Rolle im Zusammenhang mit Hochdeutsch z.B. in Rundfunk und Fernsehen. Und nach wie vor herrscht bei den verschiedensten offiziösen Events bei Männern „Krawattenzwang“ inkl. schwarze Strümpfe, Schuhe und dergl. Wodurch klar gestellt wird: „Wir sind die Offiziellen, die Wirklichen.“ – Was ist das ‚Übel‘ an diesem angeblich ‚Guten Benehmen‘? Es wird die Freiheit eingeschränkt, wie sich jemand darstellen und verhalten will. Dadurch entsteht eine verkrampfte Atmosphäre durch die guten Benehmer, die die Welt absolut zu dominieren versuchen. – Das Grundproblem in diesem Zusammenhang ist die prinzipiell eingeschränkte, kümmerliche Kommunikation.