Es gibt nix Wahres im Falschen

16,01,03


Es gibt nix Wahres im Falschen
 

Dies ist meine Verallgemeinerung des bekannten Satzes von Adorno aus der ‚Minima Moralia‘ (1951, I, 18, Schlußsatz): „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“.
 

Der Satz, daß es nix Wahres im Falschen gibt, ist selbstverständlich eine Tautologie. Dennoch enthält dieser Satz sehr viel Brisanz – aber warum? Ganz einfach, weil man das Falsche als Falsches verhüllt und ihm den offiziellen Schein des Guten, Wahren, Schönen gibt. Wenn sich das Falsche also in den Schein des Guten, Wahren, Schönen verhüllt, so ist man, sofern man an den Schein glaubt, geneigt, diesem die Wahrheit zuzusprechen und nicht die Unwahrheit. Wenn man also beispielsweise eine neue, kritische Partei gründen will, im Glauben an die schönen Worte über Demokratie und Freiheit, so wird man sich wundern, was dann wirklich passiert, nämlich wenn solch eine Partei von Agenten überschwemmt wird und die Abgeordneten in den Parlamenten von den übrigen Parlamentariern in gruppendynamische Gemeinheiten verstrickt werden und die Meinungsmedien ihr übriges an Verunglimpfung tun – und somit diese Partei im Laufe der Zeit zu einer offiziellen Partei umgewendet wird, wie alle anderen offiziellen Parteien auch. Das falsche System will im eigenen Saft schmoren, wie jedes falsche System – und duldet keine effektive Kritik. Also zu glauben, man könnte innerhalb der falschen, unwahren, verlogenen Parteienlandschaft noch zusätzlich eine wahre Partei etablieren ist so gut wie illusorisch.
 

Ein anderes Beispiel ist die wahre Liebe. Man glaubt, innerhalb der bestehenden Sexualvorstellungen eine wahre Liebe etablieren zu können. Dabei sieht man nicht, dass jene Sexualvorstellungen von einer tiefen Falschheit durchdrungen sind und nur den Schein des Guten, Wahren, Schönen haben. Sofern man also glaubt, dass dieselben ok sind, kann man auch an die wahre Liebe glauben, um der Sache dann noch einen drauf zu geben. Erst wenn man diesen Schein durchdrungen hat, ist man von jener Illusion geheilt. Denn wenn ein Mann sich verliebt, dann in eine (rollenmäßig-sexy) ‚schöne Frau‘. Diese schöne Frau ist auch für andere Männer schön & sexy – und das kann für jene schöne Frau durchaus nicht uninteressant sein. Außerdem ist ein Mann, der eine schöne Frau interessant & sexy findet, gewöhnlich auch an anderen schönen Frauen interessiert. Beide Interessenlagen beinhalten genügend Sprengstoff, um die wahre Liebe im Lauf der Zeit zerstören zu können.
 

Diese beiden Beispiele können jedoch lediglich belegen, dass dieses Phänomen existiert, wonach es nix Wahres im Falschen gibt. Doch die Frage ist: wie umfassend existiert die Disposition zum Falschen in der Gesellschaft? Oder auch anders gefragt: kann eine Gesellschaft überhaupt (auf die Dauer) existieren, in der alles Offizielle, sowie alles Wesentliche, falsch & verlogen ist?
 

Angenommen es existiert eine ‚Nischengesellschaft‘, in der sich einzelne kleine Gruppen von Menschen (z.B. Ehepaare, Freunde) einrichten können, ohne sich in der ‚Unwahrheit‘ zu verlieren (vgl. das Buch von Vaclav Havel (1980): Versuch in der Wahrheit zu leben. Von der Macht der Ohnmächtigen), so bedeutet das ja konkret, dass die Falschheit des Systems durchlöchert ist. Und speziell in unseren westlichen Demokratien existiert nach wie vor das Recht auf Meinungsfreiheit, auch wenn es immer mehr ausgedünnt wird, sodass also die tatsächliche Durchlöcherung des Lügensystems durchaus ansehnlich ist und dennoch tatsächlich eine Menge Leute – zumindest teilweise – in der Wahrheit leben können. Vor allem durch das Internet und YouTube erlangt man viele  Informationen, die durch die offiziellen Propaganda-Medien nicht rüberkommen oder gar unterdrückt werden.
 

Der Satz „Es gibt nix Wahres im Falschen“ sollte also folgendermaßen aufgeweicht werden: „Es gibt nur wenig Wahres im hauptsächlich Falschen“. Das deckt sich auch mit dem Jesus-Spruch: <Geht durch die enge Pforte, denn weit ist die Pforte und breit der Weg, der zur Destruktion führt, und viele sind, die auf ihm gehen. Denn eng ist die Pforte und schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind, die ihn finden.> (Matthäus 7, 13+14).
 

Es gibt also tatsächlich die enge Pforte der Wahrhaftigkeit, die zum Leben führt – auch in einer Gesellschaft, bei der nur allzu vieles auf Unwahrheit und Destruktion abgestellt ist. Allerdings erfordert das meiner Ansicht nach ein gewisses, vielleicht sogar hohes Maß an Reflexionsfähigkeit, an kritischem Bewusstsein, das jedoch dazu führt, dass man – aufgrund von Distanziertheit - nicht mehr die Freuden der gesellschaftlichen Gemeinsamkeit erleben kann (z.B. Fußballweltmeisterschaften).
 

Unter dieser Voraussetzung des gemeinsamen Gehens durch die enge Pforte kann es beispielsweise auch in der Liebe zwischen Mann & Frau zu wahrhaftigen Formen der Beziehung kommen. – Doch leben diese dann in einer Nische, die eine kritische Distanz zur offiziellen Welt wahrt.
 

Was ist mit Erfolgsmenschen, die Lieblinge des Publikums und der Medien sind? Von ihnen kann man glücklicherweise nicht immer sagen, dass sie nur wenig Wahres im hauptsächlich Falschen produzieren. Vor allem war das der Fall zwischen 1960 und 2010 (paradigmatisch: Beatles). Tatsächlich produzierten viele Musik- und Literatur-Künstler viel Wahres im hauptsächlich Falschen. Heutzutage (wir schreiben 2015) scheint dieses Glück wahrhaftiger (also ernsthafter) künstlerischer Produktivität langsam auszusterben.
 

Die Frage, inwiefern die Gesellschaft nicht doch immer auf, wenigstens einer relevanten Menge, wahrhaftiger, authentischer Menschen angewiesen ist, lässt sich meiner Ansicht nach schwer beantworten. Natürlich fördert es eine Gesellschaft (bzw. deren engere militärische oder ökonomische Ziele), wenn beispielsweise unbestechliche Wissenschaftler vor Gefahren warnen oder neue technische Entwicklungen vorantreiben. Gleichwohl auch, dass es Literaten, Philosophen und Künstler gibt, die eine gewisse Authentizität und Wahrhaftigkeit wahren. Das macht einen großen Teil der Stärke der westlichen Welt aus. – Aber ob da eine Angewiesenheit existiert – und inwieweit – das können vielleicht am besten die chinesischen Parteichefs beantworten. Denn ich denke, die experimentieren zur Zeit mit diesem Phänomen.