Stalin (und Hitler)

Manfred Aulbach

21.08.02

 

Stalin

 

Ich lese gerade das Buch „Chruschtschow erinnert sich“. Herausgegeben von Strobe Talbott. Eingeleitet und kommentiert von Edward Crankshaw. Reinbek 1971. (Ursprünglich: „Krushchev remembers“ Boston, vermutlich ebenfalls 1971).

 

Stalin hatte es bis 1940 geschafft, daß die gesamte Macht in der Sowjetunion („dem Vaterland der Werktätigen“) ausschließlich in seiner Hand lag. Das Hauptmachtinstrument war der NKWD mit Berija als Chef und die nach allen ‚Säuberungen’ immer noch übriggebliebenen und stetig nachwachsenden religiösen Enthusiasten der Kommunistischen Partei (en), die Stalin als Gottheit verehrten. Der oberste dieser Claqueure war Chruschtschow. Das war womöglich der einzige wahrhaft religiöse Verehrer, dem Stalin traute, weshalb er ihm relativ hohe Positionen anvertraute und ihn auch ins Politbüro holte. Ansonsten umgab er sich am liebsten mit Zynikern: Molotow, Berija, Kaganowitsch.

 

Man fragt sich immer wieder, wann immer man sich mit den unfassbaren Gräueln des Stalinismus befasst: welches Spiel spielte Stalin? War er geisteskrank, paranoid, größenwahnsinnig? Oder ursprünglich Agent der zaristischen Geheimpolizei - der sich die kommunistische Macht intern eroberte?

Chruschtschows Resümee ist das folgende:

 

<Er war ein eifriger Herr und Meister seines Staates, er bekämpfte Bürokratie, Korruption und alle möglichen anderen Mängel. Er war ein großer Mann, ein großer Organisator und ein Führer, aber auch ein Despot. Oft bekämpfte er die Primitivität, unter der unsere Industrie noch zu leiden hatte,  mit harten Methoden. In seiner Sorge um die Wohlfahrt des Staates liquidierte er erbarmungslos jeden Defekt, der ihm bekannt wurde. Man darf aber nicht vergessen, daß Stalin als Despot auch viel Schaden angerichtet hat, besonders in der Behandlung der Führung von Partei und Militär. Das war ein Resultat seines krankhaften Misstrauens gegen andere Menschen.> (S. 138).

 

Es ist ein gängiges Paradigma, ein ungewöhnliches menschliches Verhalten, für das man keine sonstige Erklärung findet, als „krankhaft“ abzustempeln. Das firmiert als medizinisches Etikett, wonach dann eigentlich nur noch ‚innere’ (individuelle) Gründe maßgebend sind und die äußeren Gegebenheiten lediglich ‚Auslöser’ sind. Unglücklicherweise kam also - gemäß dieses psychiatrischen Paradigmas -  solch ein krankhafter Mensch in der Sowjetunion an die Macht.

 

Ich denke, dieses Paradigma ist - in dieser einfachen Form zumindest – unhaltbar. Schon ein einziges Indiz lässt dieses Paradigma ins Wanken geraten: Wieso ist zu gleicher Zeit ein gleich großer „Irrer“ (mit analogen Folgen für Millionen von Menschen) in Deutschland an der Macht? Hier müssen doch zumindest noch flankierende Erklärungen derart her: welche Umstände begünstigten den Aufstieg solcher ‚krankhaften’ Menschen in die höchste gottähnliche Staatsposition?

 

Es gibt meiner Ansicht nach drei ‚äußere’ Momente, die zu jener Zeit so etwas begünstigten.

 

1.     Der Zerfall der traditionellen Werte – insbesondere Kirchen-Religion und Ständegesellschaft – durch die auch im Volk zunehmende ‚Aufklärung’ seit der Französischen Revolution. Die Menschen waren dadurch offen für neue Ideen-Systeme: Liberalismus, Sozialismus, Nationalismus.

Gleichzeitig entwickelte sich ein religiöses Vakuum, das mit neuen Inhalten ausgefüllt werden wollte. Vor allem der Nationalismus und der Sozialismus erhielten eine explizit politische religiöse Weihe (Fahnen, Aufmärsche, Kulte, heilige Symbole). Diese religiöse Komponente entfalteten insbesondere der Bolschewismus und der Nationalsozialismus als auch die diversen Faschismen zu höchster Blüte. Deshalb diese überaus große und blinde Hingabe der Massen, diese ‚Treue’ und Aufopferungsbereitschaft, dieser ‚Idealismus’, der Parteimitglieder und Jugendorganisationen, und schließlich diese Idealisierung des Führers als Quasi-Gottheit durch das Volk. Und damit auch diese unglaubliche Kritiklosigkeit (dieses Wegsehen) der religiösen Massen  gegenüber Gräueln, Vernichtung, Selbstauslöschung.

 

2.     Die systematische autoritäre Erziehung des Volkes, die im Rahmen der um sich greifenden Schulpflicht in der Fabrikdisziplin- und Militarismusgesellschaft (der allgemeinen Wehrpflicht) im Gefolge der Aufklärung zur systematischen und massenhaften Produktion autoritär geschädigter Menschen führte.

Solche Menschen haben insbesondere folgende Eigenschaften:

  • Autoritär verursachte permanente Ohnmacht wird durch die Phantasie und das Bedürfnis nach permanenter autoritärer Allmacht zu kompensieren versucht.
  • Hang zum Vorurteil (bzw. Hang zur Ideologie) statt zum ausgewogenen Urteil (bzw. sachlicher Argumentation).
  • Zwanghafte Suche nach dem ‚Sündenbock’, sobald soziale Konflikte auftauchen.
  • Zwanghafter Hang, soziale Konflikte (unterschiedliche Ansichten) durch unkooperatives Verhalten zu lösen (Gewalt, Ausgrenzung, Manipulation, ideologische Argumentation).
  • Hassbereitschaft, sobald der ‚Feind’ (scheinbar) ausgemacht ist – insofern tiefes und vermutlich unversöhnliches Misstrauen gegen den (scheinbaren) ‚Feind’.
  • Kritikloses Idealisierungsbedürfnis, sobald die Idealfigur (scheinbar) ausgemacht ist – insofern unverrückbares und kritikloses Vertrauen zur (scheinbaren) Idealfigur.
  • Unfähigkeit zur ‚Streitkultur’ des Vertrauens: Probleme können nicht durch Argumentation gelöst werden sondern lediglich durch negative Aktion (Macht-Spielchen: z.B. Beleidigung, Abkehr, Erniedrigung, soziale Isolierung, Flüsterpropaganda, ‚Ausschalten’, Mobbing, usw.).

 

3.     Der 1. Weltkrieg, der fast jede vorkriegsmäßige Lebendigkeit und Kunstsinnigkeit unter Leichenbergen begrub. Eine neue Sichtweise der Welt begann sich durchzusetzen gegenüber früher: sie war feldgrau (statt bunt), einheitlich (statt vielfältig in ihren Formen), massenhaft (statt vielerlei Komponenten), unästhetisch (z.B. Betonarchitektur statt Jugendstil). Die Männer, die aus diesem Massenschlachten zurückkamen waren ohne ‚Humanitätsduselei’, gefühlsmäßig hohl und tendenziell gnadenlos: sie waren, wenn nötig, ‚Tötungsroboter’. Diese Haltung wurde noch gegen die Menschen des eigenen Volkes ausgebildet in den Zeiten von Bürgerkriegswirren, wie in Deutschland und erst recht in Russland nach 1917/18.

 

 

Dies also die drei ‚äußeren’ Momente, die zu jener Zeit so etwas wie Stalinismus und Nationalsozialismus (Hitlerismus) begünstigten:

1.     Stalin und Hitler waren die Päpste (oder besser sogar: Gottheiten) einer jeweiligen Heiligen Kirche, ‚Partei’ genannt.

2.     Sie waren Prototypen der allgemeinen industriell-militaristischen autoritären Erziehung. Sie konnten somit eine Selbstverständlichkeit der Übereinstimmung im Denken und Handeln zwischen Führung und dementsprechendem ‚Volk’ erzeugen. Argumentation im eigentlichen Sinne war Mega-out. Sie strebten Allmacht an und appellierten an die Ohnmachtgefühle: Überwindung der Demütigung von Außen (Versailles, Einkreisung der Sowjetrepublik). Sie systematisierten Vorurteile und suchten Sündenböcke (Kulaken, Juden). Sie benutzten Gewalt, um ‚innere Gegner’ auszuschalten. Ein allgemeines Klima von „2-Minuten-Haß-Sendungen“ (George Orwell) im Rundfunk. Vollkommene Ergebenheiten und Idealisierungen dem ‚Führer’, der ‚Partei’, ‚Stalin’ gegenüber. Innerorganisatorisches-staatliches Absetzen, Einsetzen und Erschießen als ‚Problemlösung’.

3.     Der 1. Weltkrieg und der Bürgerkrieg erschuf Kriegsbestien. Zu diesen (vielen) gehörte sowohl Hitler als auch Stalin. Die Kriegsbestien hatten offenbar jede allgemein-moralische Relation zum Begriff ‚Mord’ verloren. Politischer, militärischer Mord an Menschen (‚Gegnern’) war so etwas, wie eine Fliege oder eine Wespe totzuschlagen.

Während der ‚Krieg’ ausländische Kombattanten betraf, war der ‚Bürgerkrieg’ eine neue Stufe des Mordens, nämlich diejenige an der ‚eigenen’ Bevölkerung, sofern sie als ‚feindlich’ deklariert wurde. Auch hier wieder: Politischer, militärischer Mord an Menschen (‚Gegnern’) war so etwas, wie eine Fliege oder eine Wespe totzuschlagen.

 

Hier in diesem Essay geht es um Stalin (und nur als Ergänzung um Hitler). Stalin gehörte zu diesen Bürgerkriegsbestien. Ihm war es also keineswegs fremd, Leute des eigenen Volkes wie Fliegen & Wespen zu erledigen. Wahrscheinlich auch schon Leute aus der eigenen Gruppierung, sofern sie verdächtigt wurden; seien dies innere, autoritäre Gründe (aufgrund von Unfähigkeit, Konflikte anständig argumentativ zu bewältigen) oder äußere reale bewiesene Verdächtigungen. M.a.W. damit will ich sagen, der Mann war schon 1924 in seiner Position als ‚Generalsekretär’ entsprechend hemmungslos und ohne moralische Skrupel, wenn es darum gehen sollte ‚Feinde’ (innere, äußere oder sonstige) zu ‚erledigen’. Demgegenüber waren die Leute rund um Lenin (Trotzki, Simonjew, Kamenjew, Bucharin etc.) noch (relativ!) viel zu moralisch und feinsinnig und differenzierend: sie hatten auch mehr ‚Intellekt’ als Stalin. Sie kamen allem Anschein nach aus feinsinnigen bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Elternhäusern. Stalin kam aus dem einfachen und teilweise brutalen Milieu von Gelegenheits-Arbeitern/Bauern/Kriminellen/Kriegern von Georgien. Er war der primitive Geist aus der Flasche für gewaltbereite Edelmenschen, die die Tinktur der Revolution anmischten zu höheren menschheitlichen Zwecken, wie sie Marx (angeblich) objektiv geschichtstheoretisch vorgab. Stalin sollte lediglich einer ihrer Marionetten sein.

 

Jetzt kommt meine persönliche Stalin-Theorie:

 

Vermutlich hat diese Erfahrung, nicht wirklich ernstgenommen zu werden von den wahrhaften, eigentlichen (intellektuell überlegenen und aus besserem Hause stammenden) Revolutionären (Lenin, Trotzki, Kamenjew, Sinowjew, die Krupskaja (Lenins Frau) etc.) ihn zutiefst gekränkt. Vielleicht auch deswegen, weil er die dreckigen mordsmäßigen Kastanien aus dem Bürgerkriegsfeuer holte, für die jene sich konkret zu schade waren – und nur von ferne kommandomäßig zuschauten. (Das müsste noch genauer historisch geklärt werden). Vielleicht deswegen auch seine ‚Grobheiten’ der Krupskaja gegenüber, für die ihn Lenin 1924 rügte und weswegen Lenin einen Affront zwischen ihm und Stalin herstellte.

 

Gesetzt also der Fall, das wäre so ungefähr der psychologische Sachverhalt innerhalb dieses sozialen Milieus. Weiterhin gesetzt also daß Stalin ein autoritärer Charakter ist. Er betrachtet nunmehr nicht nur die ‚Klassenfeinde’ (und ihre Verbündeten oder Anhänger) als ‚Feind’ sondern nunmehr (aber tief innerlich) auch die (vornehmen) Revolutionäre (und ihre tausendfältigen Anhänger) als - zumindest potentielle - Feinde. (Bei Hitler übrigens 1944/45 was Analoges: Sein Argwohn gegen die adligen Militärs nach der Erfahrung des 20. Juli 1944)

 

Hier gibt es zwei interessante Unterschiede zu Hitler: Bei Hitler gab es keinen relevanten Urheber (mitsamt dessen Umgebung) der ‚Revolution’ (wie dies Lenin bei Stalin war), für den Hitler nur ‚Nachfolger’ war. Des weiteren war dadurch bei Hitler keine prinzipielle geistige Deklassierung gegenüber ‚Vorläufern’ vorhanden, wie das vermutlich bei Stalin (gegenüber Lenin und dessen Umgebung) der Fall war. In der Tat war Hitler genauso wie Stalin aus einfachem Holz geschnitzt. Und in der Tat wurde er von vielen der Reichswehr und der oberen Gesellschaftsschicht als ‚der Gefreite’ angesehen. – Was auch eine der Komponenten für das Offiziers-Attentat des 20. Juli 1944 gewesen sein mag.

 

Für Stalin, wenn er das religiöse und autoritäre Element des Bolschewismus als Religionsführer ausreizte, war es also eminent wichtig, alle Schismen klar und eindeutig zu beseitigen. Das war sein eigentliches ‚Spiel’ meiner Ansicht nach. Sein extremes Misstrauen kann man auch so ansehen: Wenn nicht ich, dann würden die anderen auch nicht menschlicher mir gegenüber handeln (dürfen) – aus einheitslogischen-religiös-autoritären Gründen. Des weiteren: Die Bolschewiken waren eh nie zimperlich mit Umbringen und Erschießen nach 1918.

 

Der nächste Schritt: Stalin beging ab 1930 den Fehler der sog. Kollektivierung der Landwirtschaft. Dies erzeugte ein ungeheures Chaos, ungeheure Missernten, Hungersnot und im Gefolge diverse (zaghafte) Hungeraufstände und Streiks. Dazu Millionen von Hungertoten. In den Städten herrschte seitdem jahrzehntelang Lebensmittelknappheit. In den Kollektivgenossenschaften Armut und Tod.

 

Dies scheint mir der rationale Grundtenor für die folgenden stalinistischen ‚Exzesse’ zu sein. Denn wäre die kommunistische Partei als Organ von Willensbildungsprozessen noch ansatzweise intakt gewesen, so hätte eine Diskussion (besser Hetzkampagne) unter den Parteimitgliedern bald dazu geführt, Stalin zu beseitigen. Da derselbe wusste, wie man mit solchen ehemalig hochstehenden, aber nunmehr verfemten Leuten verfährt (vgl. Trotzki), nämlich sie in den Orkus zu werfen, kam er der Angelegenheit einfach zuvor. Ihm war klar, er musste alle irgendwie relevanten Leute auslöschen (killen), aber gleichzeitig noch genügend relevante Leute auf seiner Seite haben, die dieses Killen unterstützen und bewerkstelligen. – Das ist das eigentliche Killergenie von Stalin, daß er dafür einen Organisationsplan hatte. Seine organisatorische Basis waren immer die bolschewistisch-religiösen Fanatiker – auf sie musste er sich verlassen können. Deshalb musste immer nur Er, Stalin, als Gottheit dastehen. Dann, in diesem Schatten, konnte er abmurksen und deportieren oder sogar rehabilitieren, wen Er wollte. Für ihn war wichtig, die Partei zugunsten des Geheimdienstes auszuschalten. Dazu wurde „die Blüte“ der Partei rigoros vernichtet. Das Volk spielte eh keine Rolle (auch für den Idealisten Chruschtschow nicht!) es wurde gnadenlos verheizt im Gulag, in Hungersnöten, Krieg usw. Aber die Partei schaltete sich schon rechtzeitig selber partiell aus, indem die religiösen Deppen à la Chruschtschow jede Kritik an der ‚Generallinie’ (Stalins) bei den Parteitagen niedermachten.

 

Was also war das Spiel Stalins?

 

Meine Vermutung ist die folgende:

 

Er war – behaupte ich jetzt einfach mal so -  zutiefst gekränkt durch die Arroganz der intellektuellen Elite des Lenin-Clans. Aber er besaß die routinierte Brutalität des Bürgerkriegs und hatte dazu eine entscheidende Machtposition. Es gelang ihm, diese Machtposition zu bewahren und auszubauen. Nun nahm er ‚proletarische’  Rache an den hochmütigen und feinsinnigen Leninisten. Doch gab es danach immer noch das Problem der „Partei“ (der Kirche der Bolschewisten), die religiös an Lenin hing. Also musste er anschließend nach und nach die irgendwie herausragenden bisherigen Bastionen der Partei schleifen – mit Hilfe der Partei. Eigentlich eine (militärisch) intelligente, aber absolut brutale, machtpolitische Leistung: Alle intelligenten Leute, die sich evtl. zusammenfinden könnten (weil sie beliebt sind oder Einfluss haben könnten) nach und nach zu killen: Z.B. schließlich noch die Killer der Partei zu killen. Einen kleinen Rest  von Helfern musste er sich dennoch bewahren, nachdem 1939-1940 alle Macht absolut zentralisiert war (hauptsächlich als NKWD). Gleichzeitig musste die Partei und die Armee neu stalinistisch-NKWD-mäßig geheftet werden. Mit nur wenigen Leuten (vorneweg dem Staatsicherheitsdienstchef Berija, dann Molotow als allumfassender offizieller Chef z.B. der Außenpolitik, Kaganowitsch, Chruschtschow und andere als Trabanten) hatte er schließlich (1946), nach dem Sieg über Hitler, ein riesiges Imperium in der Hand: das zweitmächtigste der Welt, nach den USA.

 

Wo ist hier (bei diesem Modell des Stalinismus) noch Platz für das Paradigma des „krankhaften Misstrauens“? Das einzige, was da für mich an Überlegung noch übrigbleibt ist das folgende:

Für Stalin war ‚klar’, daß irgendwelche ‚Genossen’ nicht einfach nur keine Freunde waren, sondern in Wahrheit potentielle oder aktuelle Feinde, was durchaus eine tödliche Bedrohung für ihn persönlich bedeuten konnte. Vor allem wenn diese Genossen moralisch oder demokratisch dachten.

Er vertraute nicht darauf, daß er ‚Glück’ haben konnte und zu den (ständigen) Non-Feinden gehörte, sondern er drehte den Spieß wahrscheinlichkeitsmäßig um: Für ihn gab es nur noch Glück haben. Der Rest hat Pech oder ist noch mal davon gekommen. Dafür musste er alle Machtmittel einsetzen, wenn er nicht nur überleben, sondern auch noch obenauf sein wollte. Er lebte folglich in einem permanenten Kriegszustand mit der Gesellschaft.

 

Ein meiner Ansicht nach einmaliges Phänomen der Geschichte: Hitler hat – bis auf die vielen Juden und eine Minderheit von inneren Gegnern – primär einen Krieg nach Außen geführt und dabei nebenher Deutschland und Europa ruiniert. Stalin hat einen ganzen Krieg primär nach Innen geführt, und den Krieg nach Außen (gegen Hitler) eigentlich nur nebenher gewonnen.

 

Das historisch Einmalige am Stalinismus ist für mich, daß eine einzelne Person – Stalin - einen ganzen Krieg gegen die eigene Nation führt – und siegt.

 

Die naiven religiösen Kommunisten á la Chruschtschow sahen dieses Dilemma in dem Stalin steckte erst gar nicht, sie ließen sich wie die Lämmer von ihm hinschlachten. Kann sein, daß der unbefangene, mörderische und intelligente Berija die Sache durchschaute, weshalb er mit Stalin klarkam. Chruschtschow selbst rätselte darüber herum, warum er Glück hatte, und überlebte (Stalins Selbstmordfrau Aluwjewa hatte Chruschtschow als eindeutigen Stalinisten an einem Bucharinistisch gefärbten Fortbildungsinstitut in Moskau erlebt und davon Stalin im Ehe-Bett erzählt).

 

Sowohl Hitler, als Stalin waren Kinder ihrer Epoche als auch Gestalter. Sie waren der höchste Ausdruck der autoritären Erziehung der Epoche – mitsamt der ‚Dialektik der Aufklärung’ mit ihrer vagabundierenden Löslösung des Religiösen, das sich an Nationalismus und Sozialismus anheftete. Dazu der 1. Weltkrieg: Das Ende vom 1. Weltkrieg mit seinen Bürgerkriegen brachte eine neue Qualität der Brutalisierung in die Politik, ausgedrückt in dem Aufstieg der beiden Staatsreligionen Bolschewismus und Nationalsozialismus mit ihrer Negation aller bisherigen Errungenschaften des freiheitlichen Verfassungsrechts. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde aufgrund der unendlichen Leiden (so kennen wir das von West-Deutschland, z.B. Hessische Verfassung 1946, Prügelverbot) ein Anfang gemacht, jene autoritäre Erziehung zu beenden. [interessante Frage: wie war das in Ostdeutschland und anderen Ländern?].

 

Die vagabundierende Loslösung des Religiösen durch die Aufklärung hat sich seitdem primär dem siegreichen Liberalismus (dem lachenden Dritten) zugewandt und findet ihren Ausdruck in der pornografisch-religiös-romantischen Weltsicht – als Sinninstanz der globalisierten kapitalistischen Welt-Zivilisation. Der Stalinismus (und seine mehr oder minder geläuterten Nachfolger) hat sich  spätestens seit 1990 weitgehend verflüchtigt, da er ohne entsprechende Partei-Religiosität, gespeist durch durchgängige autoritäre Erziehung, erst recht ohne Bürger-Krieg, und dann noch in Konkurrenz mit dem Liberalismus, nicht existenzfähig ist. – Eine akademische Frage ist es, ob einem siegreichen Nationalsozialismus nicht ein ähnliches (vermutlich weniger gewaltfreies) Ende über kurz oder lang beschieden gewesen wäre.

 

Ich bin auch der Meinung, daß Hitlers ‚Kampf’ ein (erfolgreicher) Krieg gegen die Gesellschaft war. Damit stimmen beide ‚Heroen’ überein: sie waren erfolgreiche Kämpfer gegen die Gesellschaft, indem sie möglichst viele der bestehenden Oberschicht ins Verderben stürzten. Ja, sie arbeiteten dabei Hand in Hand: Denn Stalin konnte viele obere Parteimitglieder in den Orkus werfen mithilfe der Faschistischen Gefahr (zwischen 1938 und 1945) und Hitler konnte unendliche Mengen an antikommunistischen Menschen in Deutschland gegen die „bolschewistische Gefahr im Osten“ mobilisieren.(Und viele Konzentrationslager mit Staatsfeinden usw. füllen). Ein wunderbares Feuerwerk für zwei bedepperte autoritäre Idioten, die sich (unbewußterweise) in die Hände spielten. Erst spielte Hitler dem Stalin in die Hände, dann, ab 1943, umgekehrt: Sie konnten umbringen, umbringen, umbringen – und vom Gegner umbringen lassen. Ist die Frage, ob nicht dem überlebenden und siegenden Tyrannen der schwerere Part zufiel. [Fast schon eine Frage für ein Theaterstück].

 

Jedenfalls hatte Hitler seinen Part sichtbarerweise ganz gut gespielt (unsichtbarerweise sah es in der Sowjetunion nicht besser aus): Die Menschen waren erledigt. Ihre  Häuser und ihr Hab und Gut sind zerstört: Hitler/Stalin konnten sich ins Fäustchen lachen: Keiner von Euch Arschlöchern hat überlebt, der mich (zu meiner Zeit, als junger Mann) je zum Leiden gebracht hat – oder von denen ich mir nur einbilden konnte, daß er mich zum Leiden gebracht hat. – Meine Sprache heißt Rache, Rache, Rache; Tod, Tod, Tod. Alle Menschen sind Arschlöcher. Ich brauche aber noch einige, die diese Todes-Rache bewerkstelligen. Und Visionen habe ich auch noch. Aber wesentlich ist: Rache, Tod, Feuer, Elend, Qual über Euch alle, über die ich Macht habe. Deshalb habe ich die Macht errungen, damit Ihr darin umkommt. Ihr seid nur Gewürm meiner Rache-Phantasien, weil Ihr alle jederzeit wieder mein Leiden erzeugen würdet. Aber andererseits will ich was Herrliches. Ich weiß auch nicht weiter, ich weiß auch nicht warum: kommt darin um in diesem Dilemma. Ich baue Hohe, Schöne Gebäude und palastartige U-Bahnen und ich überlasse Euch lächelnd den Vernichtungsanlagen und Kriegen. Es soll schaurig schön sein, wenn das alles der Vernichtung anheimgegeben wird, nachdem Ihr daran geglaubt habt, daß es ewig besteht.

 

Das ist meiner Ansicht nach archetypischerweise das endlich freie Weltbild (die Phantasie) einer historisch bejubelten autoritären Seele der 20-30er Jahre, die in der totalitären Welt einen Ausweg zu finden meint – es ist Stalins/Hitlers Seele. Was also daran ist ‚krankhaft’? Diese Seele ist ein Produkt gewisser Zeiten und Verhältnisse. Sie  reagiert darauf ihrerseits scheinbar adäquat. Was fehlt ist eine Portion Reflexion und Selbstreflexion. Und warum überhaupt, wenn das damals überhaupt nicht anlag (in den betreffenden Kreisen, die sich vom Erkenntnismilieu der wissenschaftlichen Welt abkoppelten).