Meine Weltanschauung

 

13.03.2000

 

Meine Weltanschauung

 

Mit dem Ende des Marxismus glaubt man auch das Ende aller alternativen Denkvorstellungen zum Kapitalismus gekommen. Es zählen nur noch die Tagträume und Utopien der kapitalistischen Marktfundamentalisten als realistisch, alles Andere ist weitgehend unrealistisch - bis auf vielleicht noch ein bißchen Sozialdemokratismus.

 

Der Kapitalismus hat mehrere große Vorteile: Er beruht auf der spießbürgerlichen Trägheit der Menschen und er ermöglicht Gewinn und potentiell unendlichen Reichtum. Desweiteren sorgt er für technischen Fortschritt. Die spießbürgerliche Trägheit scheint überhaupt der Angelpunkt auch für das Klassen- Status- Rollenphänomen zu sein, das der Kapitalismus auf seine  eigene spezifische feudale Weise konserviert.

 

Jede echte Alternative zum Kapitalismus (erst recht zum sog. Kommunismus, der eine Art bürokratisch-terroristischer Staatskapitalismus war) beruht auf der sozialpsychologischen bzw. philosophischen Selbstreflexion des Menschen mit entsprechendem Wissenserwerb und Wissensentfaltung. In der Tat haben bisherige alternative Denkweisen enorm viel zur soziologischen und psychologischen Wissensentfaltung beigetragen. Man denke nur an den theoretischen Marxismus, den theoretischen Anarchismus, die Kritische Theorie, Studenten- und Alternativbewegung, gesellschaftskritische Psychologie, antiautoritäre Erziehung. - Doch gibt es hier zwei unüberwindliche Hürden rein statistischer Art, die beide auf der Trägheit beruhen. Die erste ist, daß die meisten 'Linken' bzw. ‚Alternativen’ in Widersprüchen stecken bleiben, da sie die eigene Selbstreflexion zugunsten politischer Aktion und/oder einem steifen Moralismus vernachlässigen. Vermutlich ist diese Selbstreflexion für manche auch deswegen praktisch unmöglich, weil sie merken, daß eine Selbstreflexion zu sehr ein inneres schwarzes Loch offenbart, ohne daß sie jemals die Chance hätten, da wieder heraus zu kommen, wenn sie sich diesem einmal annähern. Die zweite Hürde ist, daß erst recht die Masse der Menschen, also diejenigen die keine klare Meinung haben, ob sie nun links oder rechts oder sonstwo sind, träge ist und nicht im Traum an Selbstreflexion denkt – selbst wenn eine Menge psychischer psychosomatischer und/oder sozialer Probleme sich mittlerweile in ihrem Leben angehäuft haben.

 

Daraus folgt, daß obwohl meine eigene alternative Weltanschauung im Prinzip durchaus stabil ist, sie jedoch, da sie auf durchgängiger Selbstreflexion beruht, keinerlei echte gesellschaftliche Chance hat - auch nicht (oder erst recht nicht) bei den 'Linken'. Und dies vermutlich zu allen Zeiten, da zu allen Zeiten die Mehrheit der Menschen diesbezüglich träge sein wird.

 

Man hat sich verblüffen lassen durch den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt. Aber worauf beruht der? Er beruht auf der fortschreitend gestanzten Manipulation von Materie, die dann in dieser Gestanztheit verharrt bis diese Gestanztheit allmählich verrottet. Diese Gestanztheit herzustellen, dazu genügen Ingenieure, Wissenschaftler und Organisatoren und die mehr oder minder geistig träge Masse der sonstigen Werktätigen im Produktionsprozess - und eben die entsprechende Materie. Diese Gestanztheit ist eine Konstante all dieser Produktion - bis auf Wartungsarbeiten braucht man sich darum nicht mehr zu kümmern; schließlich landet sie auf dem Müll.

 

Dieses Modell des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts läßt sich aber nicht auf den Menschen anwenden im Sinne eines fortschreitenden, selbstreflexiven Bewußtseins. Der bisher bekannteste und expliziteste Versuch, dieses Modell auf den Menschen anzuwenden war der Taylorismus: hier werden Menschen in ihren Arbeitsabläufen 'gestanzt' - aber eben von Ingenieuren, Wissenschaftlern, Organisatoren, d.h. von 'Übermenschen'. Dieses Übermenschen-Modell erzeugt jede Menge psychisch verkrüppelte 'Menschen' (sowohl Untermenschen als auch Übermenschen!) und damit ein eigenes gesellschaftliches Problem von unbekannter Größenordnung.

 

Im Sinne des selbstreflexiven Bewußtseins gibt es keinen technisch-wissenschaftlichen 'Fortschritt'. Bestenfalls ein Fortschritt des durch die Selbstreflexion Einzelner (in aller Unzulänglichkeit) angehäuften Wissens, sofern es Bibliotheken dafür gibt. Hierin also habe ich mich früher geirrt (beispielsweise zur Zeit der Gründung der ‚Grünen’, ca. 1980). Ich übertrug die Idee des Fortschritts auch auf die Selbstreflexion - und zwar nicht einfach nur qualitativ sondern auch quantitativ:  immer mehr Menschen werden selbstreflexiv, d.h. gesellschaftlich-sozialpsychologisch bewußt. Dabei werden jedoch tatsächlich bestenfalls höchstens einige (im Rahmen irgendwelcher Anti-Bewegungen) selbstreflexiv bewußt. Dadurch ergibt sich sicherlich ein Einfluß auf die Gesellschaft, aber für ihn trifft womöglich voll und ganz die 'Dialektik der Aufklärung' zu, d.h. er wird verarbeitet, um die spießbürgerliche Trägheit noch effektiver zu machen, sie noch mehr zu rationalisieren im Sinne des Übermenschen-Untermenschen-Prinzips. Nur insofern wären selbstreflexive Menschen offiziell nützlich. Bezahlt werden sie dafür sowieso nicht (Eiertritte sind das, was ihnen offiziöserweise einzig als Anerkennung zusteht). Z.B. werden Atomkraftwerke kritisch gesehen, mittlerweile auch von manchen technisch-wissenschaftlich-organisatorischen Übermenschen, die von selber nicht darauf gekommen wären. Aber es wird nie das Ganze verarbeitet, bestenfalls nur das Rationale im Rahmen des Bestehenden herausgefiltert, der Rest wird  unterschlagen.

 

Was bleibt also übrig?

Erstens einmal Abschied nehmen von der Politik. D.h. vom Glauben, Politik machen zu können mit alternativen, aus der Selbstreflexion entstandenen  Vorstellungen! Und das womöglich für alle Zeiten! Es stimmt in der Tat: "Politik ist ein schmutziges Geschäft".

Rückzug auf das rein Private. Aber auch da gibt es durchaus Überschneidungen mit der Politik.

Kann man im Privaten Alternativität pflegen, während im Gesellschaftlich-Politischen statistisch die alternative Sache hemmungslos zum Untergang verurteilt ist?  - Kann man diese Trennung Privat-Öffentlich überhaupt aufrechterhalten, solange man sich als 'Dissident' fühlt, dessen Sache schließlich öffentlich zu werden hat? Andererseits, wenn der Dissident sich als reiner Privatier fühlt, also er seine Ansichten und Handlungen nicht mehr als Grundlage eines möglichen Gemeinwesens ansieht, steht er möglicherweise vor einer schweren Antinomie, vor der man sich gerne mit einer glücklich endenden Utopie  der Versöhnung die Augen verschließt.

 

Ich persönlich kann einfach nicht mehr zurück hinter einen gegebenen Reflexionsstand. Antiautoritäre Erziehung (im Sinne von Alexander Neill) ist einfach gut, Partnerschaftliches, kooperatives Verhalten genauso, desweiteren  rationaler Diskurs und Argumentation auf der Basis von mehr und mehr ausgearbeitetem gesellschaftlich-sozialpsychologischem  Wissen. Das sind so die Grundsäulen, auf denen meine Weltanschauung beruht.

 

Was bleibt also zu tun? Die obige Antinomie kann offenbar nicht so ohne weiteres realistisch aufgelöst werden. Zumindest für absehbare Zeiten. Folglich bleibt in diesem Rahmen nur noch privater Aktivismus: geistige Weiterentwicklung und damit Verschärfung der Antinomie und als Alternative (zum Polis-Dasein) desweiteren: relativ zweisames Herumreisen, solange es noch geht. Im Übrigen: Romantisier, Familisier, Kommunizier, Sauf, Freß, Rauch, Ästhetisier, Konsumier, Produzier (möglichst unentfremdet).

 

Ist das das Phänomen der 'Individuierung' C.G. Jungs? Und entsprechend das Phänomen der Psycho-Krise in die jemand hineingerät, der sich in diese Konstellation hineinmanövriert aber noch nicht weiß, daß es letztlich nur 'Individuation' ist, die übrig bleibt (also keine Erhebung in die Polis auf der Basis der Selbstreflexion)?

 

Dieses Wissen um jene Realität der Antinomie ist vermutlich das bisher einzig wahre Lebenselexier. Wenn man diese anfangs leider bitter schmeckende Medizin schluckt, so hat man das Wasser des Lebens. Denn nix Menschliches mehr bleibt einem dann wirklich fremd, auch wenn man entfremdet von der entfremdenden offiziell-politischen Gesellschaft lebt. Man lebt einerseits wie ein normaler Volksmensch, d.h. ausgeschlossen von der Polis, hat aber andererseits eine eigentliche Idee von der Polis, die jedoch erkanntermaßen (zumindest in absehbarer Zeit) unerfüllbar ist. Insofern lebt man nicht mehr wie ein normaler Volksmensch, denn der weiß nix von einer anderen Möglichkeit, und der will auch nix davon wissen. Aber man lebt auch nicht wie ein (gegenwärtiger) Polis-Mensch. Das ist offenbar die höchste Stufe der Selbstreflexion, die in der bestehenden Gesellschaft erreichbar ist. Denn der politische ‚Übermensch’ (entsprechend auch der übliche Professor) kennt keine echte Selbstreflexion, er kennt Reflexion nur als Manipulationswissen oder als Ideologie zur Herrschaftserhaltung und -Vermehrung.

 

Vgl. zu diesen Überlegungen auch die folgenden interessanten Verse aus der Bergpredigt:

 

Geht durch die enge Pforte:

 

Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit,

der zur Destruktion führt.

 

Und die Pforte ist eng, und der Weg ist schmal,

der zum Leben führt;

und wenige sind ihrer, die ihn finden.

 

(Matth. 7. 13-14)