Rollenfassade

Manfred Aulbach

14.02.00

 

Hinter der Rollenfassade: die Leere, das Nichts.

 

Rollen sind offenbar ein Stützgerüst, ein Verhaltenskorsett. Wer darin aufgeht, braucht sich nicht selber zu entwickeln. Es ist der außengeleitete Mensch, der eigentlich keine 'Persönlichkeit' im emphatischen Sinne ist: Man bezeichnet damit <…meist einen lebenserfahrenen, reifen Menschen mit ausgeprägten Charaktereigenschaften.> (Wikipedia).

Der Rollenmensch ist vergleichbar mit jemanden, der immer im Gips liegt. Er verliert seine eigene Muskulatur und verlernt, sich eigenständig zu entscheiden.

 

In dem Moment, wo der Rollenmensch nicht mehr die genau definierte Fassade hat, zeigt sich Leere und Hohlheit, also das Nichts, das hinter der Fassade dialektischerweise lauert. Ich denke, davor hat der Rollenmensch regelrecht Angst. Es ist der Horror Vacui: die Angst vor dem Leeren. Deshalb fühlt er sich bei Menschen mit Persönlichkeit unwohl. Möglichst sollen sie - in gemeinschaftlicher Aktion mit den anderen Rollenmenschen - niedergemacht werden. Denn die Menschen mit Persönlichkeit fordern implizit die Persönlichkeit des anderen Menschen heraus. Ein Mensch mit Persönlichkeit verhält sich nicht nach standardisierten Regeln sondern entwickeln seine eigenen für ihn brauchbaren Verhaltensregeln, flexibel, frei und unkonventionell. Darauf soll nun solch ein Rollenmensch ständig ebenfalls flexibel reagieren können. Damit ist er ganz klar überfordert. Und zwar grundsätzlich. Das erzeugt ein Unwohlsein im Umgang mit einer Persönlichkeit - bis hin zur Angst. Würde der Rollenmensch ebenfalls frei sein wollen, so käme er in Teufels Küche. Seine tausend Dogmen stünden ihm im Weg, und dialektischerweise würde er unter Freiheit erst einmal Chaos verstehen. Ihm fehlt der Kurs hin zu einer 'organischen' Art von Ordnung. Deswegen braucht er die Askese, die Drogenfreiheit. Denn sich gehen lassen, oder Drogen nehmen, würde ihn aus der Bahn schleudern und hoffnungslos im Chaos versinken lassen, da ihm der innere Halt fehlt. Man kann dies oft beobachten bei Alkoholikern und Drogensüchtigen. Meine Hypothese ist: es handelt sich dabei um außengeleitete Menschen, die den Rollenhalt verloren haben aufgrund dessen, daß sie Drogen nehmen. Während ein Mensch mit innerem Halt, mit Persönlichkeit, kann (evtl. sogar zwischenzeitlich ausschweifend) Drogen nehmen, kann Alkohol trinken (evtl. sogar manchmal oder öfters bis zum Exzess). Und trotzdem wird er in der Lage sein, nicht im Chaos zu versinken. Bestes Beispiel ist Timothy Leary oder der alte Goethe oder Leonard Cohen. - Deswegen reden die Leute aneinander vorbei, die für Freigabe von Drogen vs. Verbot von Drogen sind. Die einen sind vermutlich Leute mit Persönlichkeit, die anderen sind Rollenmenschen. In gewisser Hinsicht haben die Rollenmenschen recht, wenn sie ihresgleichen vor dem Chaos schützen wollen. Nur daß sie den Irrtum begehen (aber welchen Irrtum begehn sie nicht?) zu glauben, daß es allen so geht wie ihnen. Und natürlich haben auch die Persönlichkeitsmenschen unrecht, wenn sie glauben, daß alle Menschen solcherlei intuitive Fähigkeiten im Umgang mit Drogen haben könnten wie sie selber.

 

Die Rollengesellschaft hat die gewachsenen Verhaltensweisen traditioneller Gesellschaften weitgehend beseitigt. Es ist die hochdeutsche Gesellschaft vs. die Dialekt-Gesellschaft. Die Rollengesellschaft des Berufs und des bürokratisch-industriellen Status hat was Künstliches, Rationales im Vergleich zur Dialekt-Gesellschaft, die irrational und organisch gewachsen ist. Hier hat man wieder die Dialektik der Aufklärung. Das Künstliche, Rationale hat gewisse Vorteile, z.B.  bei den Vorstellungen von 'Rechtsstaat'. Da sind die Dialekt-Menschen gebunden an ihre traditionellen Vorurteile, die gar zu oft borniert sind. (Z.B. Studium für Frauen gehört sich nicht). Andererseits hat diese Rechtsstaatsvorstellung gar zu oft keinerlei Bezug mehr zur natürlichen Gerechtigkeit, die bei den Dialektmenschen noch ein Stück weit vorhanden ist. (Z.B. etwas für sie Sinnvolles zu bauen oder umzubauen, ohne die Bauordnung zu beachten; oder man denke an die sog. 'Schwarzarbeit' der berufstätigen Handwerkergesellen  im Rahmen einer immer noch quasi natürlichen Welt ohne unermeßliche Firma-Preise für Handwerksarbeit).

 

Wenn das ganze moderne Gesellschaftssystem von künstlichen Rollen durchsetzt und geprägt ist, dann fragt sich doch, wie kann da 'Persönlichkeit' entstehen, und was bedeutet sie eigentlich?

 

Ich denke 'Persönlichkeit' nimmt sowohl vom traditionellen Verhaltenskanon etliches auf - und erstickt ihn nicht - , nämlich das Emotionale, Warme, Kommunikative und gleichzeitig vom modernen Rollenkanon das Rationale, Formelle. Das Ganze in seiner Vermittlung hat nur Bestand in Form der haltbaren Argumentation und der Objektivität. Denn zweifelsohne ist sowohl der künstliche Rollenmensch als auch der Traditionsmensch hilfloses Opfer von Subjektivität, sobald er seine schützende Deckung aufgeben muß, wenn es um neuartige Gegebenheiten geht. Da ist die 'Persönlichkeit' prinzipiell besser dran, da sie den Weg in die Zukunft durch das Labyrinth zu meistern versteht. ABER. Dieser Weg wird einem nicht geschenkt. Das eben ist der Unterschied zum Rollenmenschen einerseits und zum Traditionsmenschen andererseits. Beide gehen davon aus, daß einem der Weg geschenkt wird. Insofern ist der Rollenmensch ein Traditionsmensch mit neuen Mitteln. Die Persönlichkeit hat eine Form von Arbeit zu leisten, die sich die anderen beiden Menschentypen verkneifen. Dazu noch: gesellschaftlich nicht anerkannte Arbeit, solange die anderen beiden Menschentypen prävalent sind.

 

Das war der Versuch der Klärung der Frage: was bedeutet eigentlich 'Persönlichkeit'. Die andere Frage war: wie kann unter den gegebenen Umständen überhaupt 'Persönlichkeit' entstehen?

 

Mein Stichwort dazu ist 'Bohème'. Es scheint ja wohl logisch zu sein, daß jemand, der seine Persönlichkeit entwickeln will, weder in der Rollenwelt der Institutionen gut aufgehoben ist noch in der dörflichen oder städtischen Traditionswelt. Folglich braucht er irgendeine Art von Freiraum. Dieser Freiraum ist das Ereignisfeld, wo sich relativ freie Kommunikation abspielen kann ohne traditionelle oder moderne Dogmen. Dazu gehören Menschen, die sich an beides nicht gebunden fühlen. Sie haben ihre eigenen individualistischen Ansichten, ihre eigenen Zeiteinteilungen, ihre eigenen Lebensvorstellungen. Da sowohl traditionelle als auch moderne Lebensentwürfe wenig übrig haben für 'Lust', spielt Lust eine dominierende Rolle in diesem Freiraum, der natürlich gegen etliche Widerstände behauptet werden muß. Z.B. Lust an der Erkenntnis, Lust am Experiment, speziell am Lebensexperiment. Lust am Spiel, speziell am Lebensspiel. Deswegen spielt auch immer KUNST eine große Rolle, z.B. Musik, Literatur, Dichtung, Film, Theater. Neuerdings spielt ernsthafterweise auch Erziehung eine Rolle: nämlich antiautoritäre Erziehung - woran sich möglicherweise zeigt, daß diese Bohème-Kultur ihr steriles Dasein - als Kontrast zur offiziellen Welt - langsam anfängt zu transformieren in eine Unterwanderung und Umkrempelung der Rollen- und Traditionswelt - wie es ja insgeheim immer auch gemeint war. Denn Rollenmenschen, die antiautoritär erziehen wollen, kriegen automatisch einen Hang zur Bohème. Das bereitet natürlich alles Probleme über Probleme. Aber es sind eigentlich 'gutartige' Probleme, so wie es gutartige und bösartige Geschwüre gibt. - Manchmal flüchten auch Leute voller Schrecken zurück in die Rollensicherheit - so wie beispielsweise Annemarie und mit ihr (PAS-mäßig) mein ursprünglich explizit antiautoritär erzogener Sohn Carlos. Aber das sind Details am Rande eines viel größeren Panoramas.

 

Um die Freud'sche Terminologie zu übernehmen liegt folgendes programmatisch an: Wo Über-Ich war soll Ich werden: Ich-Stärke statt Über-Ich-Stärke. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Menschheit auf einer künstlichen Über-Ich-Stufe weiterexistieren kann. Nicht umsonst gibt es unter kritisch denkenden Menschen diese ständigen Phantasien vom 3. Weltkrieg - oder vom Umwelt-Desaster. Denn solange alles diesen Rollen-Hohlköpfen und Traditionalisten überlassen bleibt (womöglich noch in einer unheiligen faschistischen Allianz), solange ist das Tor weit offen für allerlei Unheil.

 

Es bleibt also nur noch übrig, einen Kurs zu finden, den die Bohème angefangen hat zu suchen (und immer noch sucht). Und je mehr daran beteiligt sind, umso weniger bohèmeartig wird die Materie, um so mehr windet sie sich heraus aus einer Enklave  in das weite Feld der Gesamtgesellschaft. Aber bis dahin ist noch ein sehr weiter Weg zu gehen...