05.07.05
Das Buch von Roderich Ungern-Sternberg „Nationalismus und Völkerfriede“ (Eine politisch-moralische Besinnung) ist eine außerordentlich gute Abhandlung des Problems des Nationalismus. Es ist von einer hervorragenden Geschichtskenntnis und einem klaren Geist durchdrungen. Das Buch erscheint mir wie ein abgeklärtes Alterswerk von einem, der sich jahrzehntelang mit der Materie befasst hat. U-S lebte von 1885-1965, war also 1948, als das Buch geschrieben wurde, immerhin schon 63 Jahre alt. Es ist meines Ermessens nicht unwichtig hervorzuheben, dass das Buch ca. 1948-1950 im „Bollwerk Verlag“ Karl Drott Offenbach erschien, da in diesem Verlag zu jener Zeit einige wirklich gute Bücher herauskamen, die der humanistischen Neubesinnung in der Nachkriegszeit dienten. Ich persönlich habe das Buch seit 1958 von dem Frankfurter Sekretariat der sozialdemokratischen Jugendorganisation „Die Falken“. Dort stand es in etlichen Exemplaren im Schrank zur freien Verteilung an Interessierte. Aber erst 1995, im Gefolge der Bosnien-Problematik, begann ich mich mit dem von mir bislang vernachlässigten Thema „Nationalismus“ zu befassen. Das Buch war für mich damals ein Augenöffner. Wer ein tieferes Verständnis für die europäische Geschichte gewinnen will hat in diesem Werk einen Hebelpunkt gefunden. Es gibt als Einführung und als Ausklang zwei mehr sozialphilosophisch gehaltene Kapitel, die es jedoch wert sind, dass man sie genau liest, auch wenn man nicht mit allem einverstanden ist: Einmal zu Anfang (Kapitel I): „Begriffliches und Geschichtliches“. Hier nur kurz ein Zitat:
„Hat die Nationalisierung der Balkanvölker nicht auch schauerliche Konsequenzen gehabt? Solange sie unter türkischer Oberhoheit lebten, bestand zwischen ihnen Frieden und leidliche Eintracht. Kaum waren sie befreit und sich selbst überlassen, da stürzten sie übereinander her und es offenbarte sich ein Nationalhaß zwischen Serben, Bulgaren, Griechen, Rumänen, Albanesen, Mazedoniern usw., der in den strittigen Gebieten dazu führte, dass die Völker sich gegenseitig auszurotten trachteten – Kämpfe, die noch heute nicht abgeschlossen sind.“ (S. 71)
Dann zum Schluß (Kapitel VII) „Die moralische Krise und die Möglichkeit ihrer Überwindung“. Die Überwindung kann geschehen durch ein vereinigtes Europa, das sich auf den authentisch christlichen Wert der Nächstenliebe bezieht, das heißt der Mensch hat „sich charakterlich so auszubilden, dass er allen Mitmenschen wohlwollend … begegnet.“ (S. 316). Erst diese europäisch-christliche Wertvorstellung ernst genommen kann eine haltbare internationale Rechtsordung des Friedens entstehen lassen. Ohne diese Basis kann kein neues Europa entstehen. Denn erst mit dieser ernstgenommenen Humanität als Grundvoraussetzung kann man das Übel des wahnhaften Nationalismus an seiner Wurzel überwinden. Nur so ist es dann möglich zu sagen: „Wir wollen aber nicht mehr rechten und streiten, sondern uns über Gräber und Trümmer die Hände reichen und zu vergessen suchen …“ (S. 342).
Wenn sich die Macht- und Territorital- bzw. Imperialinteressen der Regierenden verbinden mit der Teilhabe des Volkes an der Politik und einer sich herausbildenden Öffentlichkeit im Gefolge moderner Entwicklung hin zu Demokratie und Selbstbestimmung der ‘Nationen’, so ist damit die Grundvoraussetzung für den modernen Nationalismus geschaffen. Insbesondere die Französische Revolution mit ihrem Gefolge der Ausbreitung der napoleonischen Herrschaft (und der Ideen der Aufklärung) in Europa gab dem Nationalismus einen mächtigen Auftrieb.
Das janusgesichtige Phänomen der „Aufklärung“ ist gemäß Ungern-Sternberg somit verständlicherweise eine wichtige Erklärungsgrundlage für den Nationalismus. Hier bemerkt der aufmerksame Leser interessante Überschneidungen mit Paul Tillichs „Systematische(r) Theologie“ oder auch mit der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer & Adorno. Offenbar gibt es eine insgeheime Logik tiefgründiger humanistischer Philosophie, die auch in Ungern-Sternbergs Werk zum Ausdruck kommt.
Die im engeren Sinn historischen Kapitel waren für mich ungeheuer spannend – und wie gesagt – sie öffneten mir so manches Auge. Kapitel II: Der Nationalismus in Frankreich. Kapitel III: Der Nationalismus in Deutschland. Kapitel IV: Der russische Nationalismus und der Panslawismus. Kapitel V: Der englische Nationalismus. Kapitel VI: Die Quintessenz des Nationalismus. – Wer für eine tiefergehende Diskussion zum Thema Nationalismus ein Grundlagenpapier als Einstieg braucht, der kann sich gut an diesem 6-seitigen Leitfaden des Kapitel VI orientieren. Hier werden die typischen Merkmale des Nationalismus in 13 Punkten präzise abgehandelt. Z.B. im 13. Punkt kommt U-S zu der interessanten Feststellung, dass die Beilegung internationaler Konflikte auf friedlichem, schiedsrichterlichem Wege unter Menschen nationalistischer Gesinnung nicht möglich ist. (S. 288). Die Feststellung ist für mich deswegen interessant, weil sie sich bei der Abstimmung zum „Annan-Plan“ zur Lösung des Cypern-Problems 2004 in der Tat (wieder einmal) bewahrheitet hat. Das Palästina-Problem hat offenbar das gleiche Schicksal.
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