Schlaraffenland

 

06.05.06

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Schlaraffenland

 

Wenn überhaupt eine Utopie jemals Wirklichkeit wurde, so ist es die vom Schlaraffenland in der Gegenwart. - Es wird endlich Zeit, daß wir diese empirische Realität auch theoretisch würdigen!

Zunächst einmal die Darstellung dieser Mythologie:

 

Das Märchen vom Schlaraffenland

  • Ich weiß ein Land, dahin mancher gern ziehen möchte, wenn er wüsste, wo es liegt. Dieses schöne Land heißt Schlaraffenland.
  • Da sind Häuser gedeckt mit Eierkuchen, die Türen sind von Lebzelten und die Wände von Schweinebraten. Um jedes Haus steht ein Zaun, der ist aus Bratwürsten geflochten. Aus allen Brunnen fließt süßer Wein und süßer Saft. Wer den gern trinkt, braucht nur den Mund unter das Brunnenrohr zu halten, und der süße Saft rinnt ihm nur so hinein.
  • Auf den Birken und Weiden, da wachsen frischgebackene Semmeln, und unter den Bäumen, da fließen Milchbäche. Die Semmlen fallen in sie hinein und weichen sich selbst ein. Das ist etwas für die Kinder, die sich gern einbrocken!
  • Hallo, Gretel, hallo, Hansel ! Wollt ihr nicht in dieses Land ziehen? Macht euch auf zum Semmelbach, vergesst aber nicht, einen großen Milchlöffel mitzunehmen!
  • Die Fische schwimmen im Schlaraffenland oben auf dem Wasser. Sie sind auch schon gebacken oder gesotten und schwimmen ganz nahe am Ufer. Wenn aber einer gar zu faul ist und ein echter Schlaraff, der darf nur bst! Bst! Rufen - und die Fische kommen aufs Land herausspaziert und hüpfen dem guten Schlaraffen in die Hand, dass er sich nicht zu bücken braucht.
  • Ihr könnt es ruhig glauben, die Vögel fliegen dort gebraten in der Luft herum, die Gänse, Enten und Hühner, die Truthühner und die Tauben. Und wem es zu viel Mühe macht, die Hand darnach auszustrecken, dem fliegen sie schnurstracks in den Mund hinein. Die Spanferkel laufen gebraten umher, das Messer steckt ihnen schon im Rücken, damit, wer will, sich ein frisches, saftiges Stück abschneiden kann.
  • Käse liegt im Schlaraffenland wie Steine, groß und klein umher. Die Steine selbst sind lauter gefüllte Pastetchen. Im Winter wenn es regnet, regnet es lauter Honig in süßen Tropfen. Da kann einer lecken und schlecken, dass es eine Lust ist. Und wenn es schneit, so schneit es Staubzucker, und wenn es hagelt, so hagelt es Würfelzucker, vermischt mit Feigen, Rosinen und Mandeln.
  • Das Geld kann man von den Bäumen wie gute Kastanien schütteln. Jeder mag sich das beste herunterschütteln, das mindere lässt er liegen.
  • In dem Land, da gibt es auch große Wälder. Da wachsen im Buschwerk und auf den Bäumen die schönsten Kleider, Röcke, Mäntel, Hosen und Westen in allen Farben, schwarz, grün, gelb, blau und rot. Wer ein neues Gewand braucht, geht in den Wald und wirft es mit einem Stein herunter. Auf der Wiese wachsen schöne Damenkleider aus Samt und Seide, die Grashalme sind bunte Bänder.
  • Die Wacholderstöcke tragen Broschen und goldene Nadeln, und die Beeren sind nicht schwarz, sondern echte Perlen. An den Tannen hängen Armbanduhren. Auf den Stauden wachsen Stiefel und Schuhe, Sommer- und Winterhüte und allerlei Kopfputz.
  • Dieses edle Land hat auch ein Jungbad. Alte und kranke Leute baden darin drei Tage oder vier, und sie werden gesund und jung und schmuck und sehen wie siebzehn oder achtzehn aus.
  • Auch mancherlei Spaß und Kurzweil gibt es in dem Schlaraffenland. Wer zu Hause kein Glück hat, der hat es dort bestimmt. Beim Spielen wird er immer gewinnen, beim Schießen wird er immer ins Schwarze treffen. Wer die Leute am besten necken und aufziehen kann, bekommt jedes Mal ein Goldstück.
  • Für die Schlafsäcke und Faulpelze, die bei uns durch ihre Faulheit arm werden und betteln gehen müssen, ist das Schlaraffenland gerade das richtige Land. Jede Stunde Schlafen bringt dort ein Silberstück ein und jedes Mal Gähnen ein Goldstück. Wer gern arbeitet, das Gute tut und das Böse lässt, der wird aus dem Schlaraffenland vertrieben. Aber wer nichts kann, nur schlafen, essen, trinken, tanzen und spielen, der wird zum Grafen ernannt. Und der Faulste wird König im Schlaraffenland.
  • Nun wisst ihr, wie es im Schlaraffenland zugeht. Und wer gern hinreisen will, aber den Weg nicht weiß, der frage einen Blinden. Auch ein Stummer wird ihm keinen falschen Weg sagen. Aber der Weg dahin ist weit für die Jungen und für Alten, denen es im Winter zu heiß und im Sommer zu kalt ist. Noch dazu ist um das ganze Land herum eine berghohe Mauer aus Reisbrei. Wer hinein oder heraus will, muss sich da erst mal durchessen.
  • Aus:
  • http://www.internet-maerchen.de/maerchen/schlaraffenland.htm
  • Wikipedia:
  • Das Schlaraffenland (von mhd. sluraff = Faulenzer) ist ein fiktives Land aus dem deutschen Märchen.
  • Es wird häufig als ein Land geschildert, in dem alles im Überfluss vorhanden ist. In den Flussbetten läuft Milch, Honig oder Wein statt Wasser. Alle Tiere hüpfen und fliegen bereits vorgegart und mundfertig durch die Luft. Die Häuser bestehen aus Kuchen. Statt Steinen liegt Käse herum etc. Genießen ist die größte Tugend der Bewohner des Schlaraffenlands, harte Arbeit und Fleiß wird als Sünde betrachtet. Wer eine Frau hat, die ihm nicht mehr jung und hübsch genug ist, kann sie dort gegen eine junge und schöne Frau tauschen und bekommt noch ein Draufgeld dafür. Die Alten und Garstigen - denn ein Sprichwort sagt: "wenn man alt wird, wird man garstig" - "kommen in ein Jungbad, damit das Land begnadet ist. Das ist von großen Kräften; darin baden die alten Weiber etwa drei Tage, oder höchstens vier, da werden schmucke Dirnlein daraus, von siebzehn oder achtzehn Jahren... "
  • Schlaraffenland wird deshalb heute meist übertragen verwendet, um auf ein Paradies des Nichtstuns und müßig essend Herumliegens hinzuweisen.
  • Die Idee tauchte erstmals 1494 als Parodie auf das Paradies in einem Werk Sebastian Brants auf, später wurde das Motiv in einem Gedicht von Hans Sachs aufgegriffen.
  • Aber bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. gab es ähnliche Ideen bei den griechischen Dichtern Telekleides und Pherekrates (Gebratene Krammetsvögel mit kleinen Kuchen flogen Einem in den Schlund hinein).
  • Ein Märchen der Brüder Grimm ist betitelt als "Das Märchen vom Schlaraffenland" und konzentriert sich weniger auf die kulinarischen Aspekte als allgemein auf die Thematik satirischen Rollentausches. Auch Ludwig Bechstein hat das Thema in einem Märchen gleichen Titels aufgegriffen.
  • Eigener Kommentar:

Wie auch immer: Eines steht fest: Wir leben zur Zeit im Schlaraffenland! – Ich würde mal grob geschätzt sagen: so ungefähr ab 1970 wurde das immer extremer – ging immer mehr in die Fläche. Natürlich hat sich das auch schon viel früher angebahnt: bei den herrschenden Schichten (Patriziern, Adel) als oberes ‚Massenphänomen’  schon seit dem 17. Jhdt. -  würde ich mal schätzen. Die oberen Schichten dienten gewissermaßen als Vorbild. Das Prinzip weitete sich dann immer mehr aus – wurde sozusagen ‘demokratisiert’.

Ja freut sich denn keiner, daß wir endlich (fast) alle in Deutschland (und sonstwo in anderen Industrieländern) im Schlaraffenland leben?

Es ist noch nicht mal ein Adelsprivileg oder sonst ein besonderes Zeichen (Anzug, Krawatte etc.) nötig: Jeder ist willkommen, (fast schon wie beim Franz Kafka im Naturzirkus von Oklahoma!). Man braucht noch nicht mal viel Geld, um in Fleisch, Gemüse, Nudeln, Reis, Gewürzen, Wein und Bier, Nüssen und Klamotten zu versinken. Gehe beispielsweise hin zu ALDI und kaufe!

Ich persönlich finde, es ist Grund zur Freude, daß wir in Deutschland (oder in Holland, Frankreich, Schweden, USA, Italien usw.) im Schlaraffenland leben. Und ich finde, man sollte dies feiern und gebührend würdigen. - Das ist kein Scherz! Wer es richtig anstellt, entsprechende Lebenskunst vorausgesetzt, lebt schon fast (manchmal) in einer Art Paradies.

Das Schlaraffenland mit all seinen fast unendlich vielen Kaufprodukten (beispielsweise den bequemen und schnellen Autos) erscheint heutzutage bei uns als das ‚Normale’; aber außerdem gehören zu diesem Normalen noch: Abwässerkanalisation, Müllabfuhr, Rechtssicherheit, Freiheit von Zahnschmerz, Medizinversorgung, Altersversorgung, usw. – Erst wenn man irgendwas von diesem ‚Normalen’ nicht (mehr) hat, fällt einem auf, was einem fehlt!

Es ist klar: das Schlaraffenland ist ein Produkt des sozial gebändigten modernen Kapitalismus (ungefähr seit 1920-1950) der europäischen bzw. amerikanischen Kulturgesellschaften. Warum zum Teufel ist es nicht möglich, dieses erfolgreiche Produkt moderner abendländischer Zivilisation würdig zu feiern? Das sollte jedoch unbedingt gleichzeitig als Anlaß dienen, darüber zu reflektieren, welche Kosten dieses Produkt verursacht (beispielsweise Versauung der Welt, Verödung und Verhäßlichung der Städte, Landschaften und Dörfer, Neurotisierung, Psychosomatisiereung und Vereinsamung der Menschen) – und über die Frage rational nachzudenken, welche dieser Kosten reduzierbar sind - bzw. unbedingt reduziert werden sollten. - Denn auf das Schlaraffenland als solches wollen wir - soweit ich erkennen kann - eigentlich nicht verzichten. - Auf andere wesentliche Angelegenheiten der Humanität jedoch auch nicht!

 

 

Siehe auch noch als Fortsetzung dieses Themas (2009):

Schlaraffenland  -  zum Zweiten  -  die Real-Schlaraffen